Die Würde des Menschen

16-10-2017 Artikel von Mieke Mosmuller

Wer die Situation in der Welt zu überschauen versucht – auch wenn die Gegebenheiten, zu einer solchen Übersicht zu kommen, absolut unzureichend sind –, wird in jedem Fall den Eindruck bekommen, dass mit der Menschheit etwas Ernstes ,los’ ist.

Es wird viel über den Klimawandel und die Umwelt gesprochen. Aber die Veränderungen, die in der Menschheit im Gange sind, bleiben großteils unbesprochen.

Einst anerkannte der denkende Mensch eine ,prima philosophia’. Das bedeutete, dass ein felsenfestes Vertrauen in die menschliche Möglichkeit bestand, Wahrheit festzustellen – zwar nicht in allen Dingen und Tatsachen, wohl aber als eine prinzipielle Anlage.

Auch die Evolutionstheorie ging davon noch aus, was aus dem Namen für den Menschen hervorgeht: homo sapiens, wissender (oder sogar weiser) Mensch. Eine Stufe darüber steht dann der homo sapiens sapiens, das ist der Mensch der von dem Wissen weiß: der selbstbewusste Mensch.

Es ist zu erwarten, dass die Entwicklung da nicht aufhört, man möchte weiterdenken in Richtung einer weiteren Vertiefung des homo sapiens sapiens.

Nun ist es gerade dies, dem die heutige Entwicklung zu widersprechen scheint. Keine Vertiefung tritt ein, sondern ein wahrer Rückfall scheint uns zu bedrohen. Es sieht danach aus, als würde die menschliche Rasse degenerieren und dekadent werden.

Vielleicht sieht dies nicht jeder so. Möglicherweise finden Menschen den Zustand, in dem sie sich bef nden, wunderbar. Aber es sind doch auch viele Stimmen zu hören, die besorgte Worte äußern.

Im 19. und 20. Jahrhundert wurde mit der prima philosophia abgerechnet. Die Wahrheit besteht in Wirklichkeit nicht, sie ist eine Größe, die höchstens als etwas betrachtet werden kann, dem man sich durch Wissenschaft und Kommunikation nähern kann. Evidence-based ist die Wissenschaft, und ihre Wahrheit gilt bis zur Falsifzierung – d.h., bis das Gegenteil bewiesen werden kann. Für das Übrige gilt: Je mehr Menschen etwas erkennen, desto größer die Chance, dass es auch so ist.

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Mieke Mosmuller in 2013

Demgegenüber stehen die Machtgruppen, die nicht danach streben, dass der Mensch sich weiter entwickelt, sondern die auf die eine oder andere Weise die Menschheit in die Hand zu bekommen versuchen.

Was will ich nun eigentlich sagen? Die Philosophie, die davon ausging, dass ,Wahrheit’ im Bereich des menschlichen Denkens liegt, ist von der modernen Philosophie entkräftet worden. Die moderne Anschauung des Menschen und seines Erkenntnisvermögens sieht ,Wahrheit’ als ein Phänomen, das durch viele Faktoren bestimmt wird, wodurch sie sich nicht fassen lässt, jedenfalls sicher nicht durch einen menschlichen Denker in voller Einsamkeit. Wahrheiten sind annäherbare, ungreifbare, vorübergehende Denkbilder, mitbestimmt vom Paradigma der jeweiligen Zeit.

Was zunächst eine philosophische Feststellung war, von der der Mensch im Alltagsleben kein Bewusstsein zu haben braucht, wird mehr und mehr etwas, was ,wahr gemacht wird’. Ich will hiermit nicht eine Verschwörungstheorie enthüllen. Ich betrachte die Fakten. Hatte man zunächst die Auffassung, dass Wahrheit nicht existiert, so wird diese Auffassung heute weltweit ,wahr gemacht’. In welcher Hinsicht? Bis jetzt haben zum Beispiel die politischen Führer noch immer behauptet, in der Wahrheit zu sein und eine wahrhaftige Politik umzusetzen. In unserer Zeit tritt ein vollkommen neues Phänomen auf: öffentliche Unwahrhaftigkeit ohne den Versuch, dies zu verhüllen.

Das Wort ,schamlos’ scheint hier an seinem Platz. Man könnte auch paradox sagen: die Unwahrhaftigkeit wird mit Wahrhaftigkeit gezeigt. Damit wird durch Tatsachen bewiesen, dass die Wahrheit nicht existiert: wenn man wahrhaft unwahrhaftig ist, gibt es keine Wahrheit, und übrig bleibt eine schamlose Frivolität.

Der ,gewöhnliche’ Mensch sieht dies wirklich, aber er steht dem machtlos gegenüber. Und inzwischen tritt recht schnell eine Gewohnheitsbildung ein: wir gewöhnen uns an diese neue Menschenart und nehmen das ,Nötige’ auch selbst auf.

Unterdessen werden wir mit Informationen überschüttet, in einem Tempo, das unser beurteilendes Denken nicht mitmachen kann. Links und rechts werden erschütternde Schläge ausgeteilt, und wir müssen zusehen, wie wir die Mitte halten. Oder wir werden völlig ohnmächtig und Sklave der Geschehnisse, die uns ereilen, oder wir beginnen eine Revolution – ohne genau zu wissen, wie alles zusammenhängt. Wir können auch auf stabilere Denkmuster aus der Vergangenheit zurückgreifen und versuchen, die Situation damit zu ergründen. Man kann auch die Hoffnung haben, dass durch dieses Chaos von Prüfungen hindurch die Vernunft wieder triumphieren wird und dann eine höhere Stufe erreicht.

Ich sehe eine andere Möglichkeit, die mir zugleich eine Notwendigkeit zu sein scheint. Das ist eine Besinnung auf das Mensch-Sein an sich. Ist der Mensch richtig charakterisiert, wenn wir sagen: homo sapiens, oder sogar homo sapiens sapiens? Ist das alles, wodurch wir uns von den Tieren, den Pflanzen, den Steinen, dem Stoff unterscheiden? Es ist wohl deutlich, dass Wissen noch keine Weisheit ist und Selbstbewusstsein noch keinen sozialen Zusammenhang schafft. Was ist das Wesentliche des Mensch-Seins?

Kinder finden wir lieb und ungezogen, und wir meinen, dass sie zu sozial lebenden Wesen zu erziehen seien. Zur Kirche gehen wir gewöhnlich nicht mehr mit ihnen, aber wir finden sehr wohl, dass sie keine Diebe und Mörder werden dürfen.

Kurzum, der Erwachsene hat ein Gewissen. Er hat etwas in seinen Knochen, in seinem Mark, in seinem Blut, dieses Etwas hat Gewissen. Was ist das? Wir haben ganz gewiss das Wissen von Gut und Böse in unserem Mark, und das haben wir nicht dank der Kirche oder dem Lehrer oder Papa und Mama, sondern das haben wir aus uns selbst, als wäre es eine Erinnerung an eine Weisheit, die mit Gut und Böse zu tun hat. Das hat eine Pflanze nicht, sie ist den Elementen und Jahreszeiten machtlos ausgeliefert – und dem Menschen. Ein Tier hat dies auch nicht, es verschlingt gemäß der Lust des angeborenen Instinktes.

Aber der Mensch hat noch etwas anderes. Er hat sicher eine ,Weisheit’, ein Vermögen zu Wissen und Weisheit, aber dies erstreckt sich bis zum Unterscheidenkönnen zwischen Gut und Böse. Und dies nicht nur in Bezug auf den Anderen – das ist am einfachsten –, sondern auch in Bezug auf sich selbst.

Da liegt jenes urmenschliche Wissen von Gut und Böse in Bezug auf die eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken. Da verfügt der Mensch wirklich über die ,Weisheit’, in Bezug auf die Einsicht in das eigene Gut und Böse: Das erst ist der homo sapiens sapiens!

Wenn die Menschheit nicht degenerieren will, wird jeder Teilnehmer der Menschheit bei sich selbst zu Rate gehen und die Einsicht in das eigene Gut und Böse erwerben und vertiefen müssen. Das geht nicht ohne eine Entwicklung zu wirklicher Weisheit. Hier hilft keine Wissenschaft, Philosophie, Psychologie und auch keine Religion. In Bezug auf das eigene Gut und Böse ist das Vermögen, sich selbst ,weise zu machen’ das Größte. Darum ist der erste Schritt nur Heilung die Entwicklung eines starken und objektiven Denkvermögens, das bei dem Blick auf das eigene Selbst ebenso stark und objektiv bleiben kann, wodurch die Weisheit des Menschen auch beim Anschauen seiner selbst weise bleiben kann.

Eine intensive Entwicklung des selbstbewussten objektiven Denkens in unserer Zeit ist das Heilmittel und die Prävention des totalen Verfalls der menschlichen Würde.