Inferno und Himmlische Rose
27-06-2013 Buchbesprechung von Lieke van der Ree,Das Gute kann das Böse nicht mit Bosheit bekämpfen, denn es hat allein das Gute zur Verfügung.' (Mieke Mosmuller, Inferno)
Die Romane Inferno (2007) und Himmlische Rose (2010) haben das Thema: Wie kann ein Mensch, der scheinbar kein Gewissen hat, doch zum Guten kommen? Sie beschreiben 15 Jahre aus dem Leben von Gerrit, einem knallharten Geschäftsmann, und Beato, einem jungen italienischen Arzt. In „Inferno“ erzählt Gerrit seine Geschichte, in „Himmlische Rose“ schildert Beato die Geschehnisse aus seiner Perspektive.
Als Gerrit 55 und Beato 25 Jahre alt ist, begegnen sie einander, weil Gerrit in dem Kurort, wo Beato arbeitet, Linderung für seine rheumatischen Schmerzen sucht. Gerrit hat vor nichts und niemandem Angst, ist immer wachsam, immer darauf bedacht, die Macht in der Hand zu haben. Er hat gelernt, sein Gewissen zum Schweigen zu bringen, verliert nie die Kontrolle über sich selbst. Außer in jenem einen Sekundenbruchteil, in dem er Beato begegnet. Diese erste Begegnung hat eine Entwicklung zur Folge, die sich beschleunigt, als Gerrit mit 69, unheilbar krank, wiederum in Beatos Behandlung kommt. Dieser arbeitet nun in dem Institut und Krankenhaus von Johannes, das auch der Schauplatz früherer Romane von Mieke Mosmuller ist. Für Gerrit gibt es keine Hoffnung auf körperliche Genesung. Der Kontakt mit Beato bewirkt dennoch viel, Gerrit und Beato führen intensive Gespräche. So erzählt Gerrit (der Ich-Erzähler) Beato im Krankenhaus:
‘Zu mir hatte niemand Zugang – es gab nur Einbahnverkehr. Kein Austausch, alle Macht wurde von mir entfaltet. Mit dieser Fertigkeit bin ich dann ans Werk gegangen. Vor allem Waffenhandel, oft illegal, aber unter legaler Decke. Ich war auf Regierungsebene tätig, Beato, international. Nicht öffentlich, nicht auf großer Bühne, sondern hinter dem Vorhang. Die Dinge liefen, wie ich es wollte, Widerstand habe ich nie akzeptiert.’
‘Entschuldigung, Gerrit, vielleicht bin ich einfältig, aber so etwas geht doch immer irgendwann einmal schief?' Ich sah ihn lange an, er wurde natürlich nicht unsicher. ‘Natürlich ist es schief gegangen, Beato. In dem Moment, wo für den Bruchteil einer Sekunde Selbstbezogenheit entsteht, fällt das ganze Kartenhaus zusammen. Dann bekommt man eine Freikarte ins Gefängnis, unmittelbar.’
‘Hast du doch im Gefängnis gesessen?’ Ich lachte spöttisch. ‘Natürlich nicht. Ich bin keinen Moment unsicher geworden. Nie. Solange ich lebe, wird niemand es wagen, etwas gegen mich anzufangen. Dennoch ist es schief gegangen. In dem Moment, als ich da in Italien ins Sprechzimmer hineinging und ich einen Sekundenbruchteil mich selbst gewahr wurde, wie du mich sahst. Du, die absolute Vollkommenheit, ein junger Gott, durch meine aktive Schwärze nicht aus der Ruhe zu bringen. Du erreichtest, was niemand fertiggebracht hatte, und du erreichtest es ungewollt. Du hast es erreicht, weil du so unglaublich nett bist, wortwörtlich entwaffnend. Alle meine Waffen klirrten zu Boden, und in meiner Verletzbarkeit hast du mich gefasst, Junge. Und du hast etwas Gutes in mein Inneres gestopft.
Von dem Moment an ist es schief gegangen, auch wenn ich mich nach einer Weile halbwegs wieder hergestellt hatte und noch eine Reihe von Jahren ordentlich weiter gewuchert habe. Sex und Geld sind Genussmittel, aber worum es wirklich ging, war die Macht. Die großen Bosse des Bösen in einem James-Bond-Film sind alberne Fantasien eines Autors, der nichts davon versteht. Machtstreben braucht keine hungrigen Piranhas in Schwimmbecken, keine unterirdischen Laboratorien.
Machtstreben braucht Schlichtheit, die Schlichtheit der schwarzmagischen Technik. Aber dann ist Liebe pures Gift, ein Lichttröpfchen ist genug, wenn es ein weißmagisches Lichttröpfchen ist. Denn meinst du nicht, dass dem ganzen Machtstreben im Grunde das heftige Verlangen nach Liebe zugrunde liegt? Total unbefriedigtes Liebesverlangen?’ Ich schwieg, schon wieder völlig erschöpft. Ich hatte gebeichtet, aber zugleich schon beim Sprechen begriffen, was die Buße sein musste. Liebe war die Buße. Unter dem gegossenen Beton des Machtstrebens keimte doch Liebe. Und Liebe muss man nicht bekommen wollen, man muss sie schenken wollen.
Dank dem Kontakt mit Beato reift diese Einsicht in Gerrit. Aber seine Begegnung mit der sehr jungen Violinistin Sophie entwaffnet ihn völlig. Gerrit sagt ihr über sich selbst: ‘Eigentlich bin ich ein Drecksack, wirklich. Aber in dem großen Drecksack sitzt ein Lichtpunkt. Den hast du gefunden, und er wird noch angefacht werden, das gelobe ich dir, Sophie. Ich gelobe es dir wirklich!’ Etwas später schreibt er anlässlich des Kontaktes mit ihr in sein Tagebuch:
Auf einmal war sie da. Reue. Sie lässt sich nicht wie ein Begriff umschreiben, sie ist eine Emotion. Sie ist die stärkste Emotion, die ich je gehabt habe. Vielleicht hat Sophie, genau wie Beat, ein geheimes Vermögen, etwas in mich zu pflanzen. Aber wahrscheinlich war sie schon da, wurde nur jetzt durch die anderen Emotionen geweckt. Reue. In einem Sekundenbruchteil fühlte ich die enorme Schuld, die ich in meinem Leben auf mich geladen habe. Das Lamm fühlte die schwere Last des Wolfpelzes, und plötzlich sah ich vollständig – auch wenn es nur sehr kurz war –, wie das alles gutgemacht werden müsste. Einst. Die Reue kam wie eine überwältigende Emotion auf, ähnelte der Liebe, dem Liebeskummer, der unbeantworteten Liebe. Und die Emotion ließ mich erleben: den Wolf lasse ich hinter mir, für immer. Aus Gewohnheit wird er sicher dann und wann noch danach trachten, eine Beute zu machen. Aber das Lamm wird ihn mit der vollen Macht der absichtlichen Unschuld überwältigen. Die Liebe übersteigt an Macht alle äußerliche Macht.
Außer Beato und Sophie gibt es noch drei große Persönlichkeiten, die in Gerrits letztem Lebensjahr eine Rolle spielen: der Meister und die Ärzte Philippe und Johannes. Beato und diese drei Menschen arbeiten im Institut von Johannes zusammen, um ihre geisteswissenschaftlichen Einsichten zu vertiefen und im Krankenhaus in die Praxis umzusetzen. Der Meister hält Gerrit durch seine reine, östliche Gelassenheit einen Spiegel vor und hilft ihm, den Hochmut loszulassen. Über seine Begegnung mit Philippe Laurent, dem Arzt, der die Hauptperson in dem Roman „Königsweg“ ist, schreibt Gerrit in sein Tagebuch:
Ich sagte zu ihm: ‘Ich habe für Macht, Sex und Geld gelebt. Das ist noch nicht so schlimm, Doktor. Aber ich habe das Böse genossen, die Vernichtung an sich. Auf meinen Befehl hin wurden eine Menge Menschen getötet – weil es nötig war. Aber ich habe es genossen, jedes Mal wieder und wieder. Dies habe ich noch nie bekannt, auch nicht gegenüber meinem besten Freund, Beato – ja selbst mir gegenüber kaum. Aber ich fühle den Vernichtungsdrang immer wieder aufkommen, ich kämpfe dagegen ... und ich gewinne wohl jedes Mal. Aber ich habe Angst vor mir selbst bekommen, Angst, dass ich doch zurückfallen werde. Was muss ich um Himmels willen unternehmen, um die aufwallenden Gefühle und Gedanken zu bekämpfen?’ Ich begann zu heulen, unbändig. Ich fühlte die Güte des mir gegenüber sitzenden Mannes, eine Form von Treue fühlte ich. Diese ist so rührend, dass sogar meine Rüstung durchbohrt wurde. Beat ist das Gleichgewicht selbst, der Professor ist Gelehrtheit ... Sophie die Unschuld. Aber dieser Mann ist ganz und gar Güte. Er machte keinen Versuch, mich zu trösten, aber ich sah seine Gerührtheit. ‘Sie müssen beten lernen.’, sagte er sanft. ‘Ich werde Sie das ‘Vater Unser’ lehren, dagegen hat das Böse keinen Bestand. Das müssen Sie bei jeder Anfechtung beten, laut. Außerhalb dieser Augenblicke müssen Sie danach trachten, die Bedeutung der Worte zu sich durchdringen zu lassen. Sie werden sehen, dass es wirkt.'
Die Anwendung dieses Rats hat für Gerrit große Folgen, er wird von den bösartigen Anfechtungen befreit. Auch mit Johannes führt Gerrit tiefe Gespräche, um seinen Rat zu erfragen. In seinem Tagebuch blickt Gerrit auf das zurück, was Johannes ihm sagte:
‘Ansichten und Gefühle sind zu schwach, zu flüchtig, um in Ihrem Fall etwas Wesentliches verändern zu können. Ihr Wille will noch nicht wirklich.’ Ich fragte: ‘Was wird mich nach dem Tod erwarten?’ ‘Das ist abhängig davon, was Sie jetzt noch tun. Wenn Sie vor Ihrem Tod mit Ihrem Willen noch das Gute wählen – aber dann durch und durch – dann haben Sie diesen Willen auch nach dem Tod zur Verfügung. Auch wenn das Urteil über Ihre Taten dann noch so niederschmetternd sein wird, Ihr guter Wille wird Ihnen hindurchhelfen und Sie werden vor dem nächsten Erdenleben Ihr Schicksal ganz im Dienste des Herrn des Guten erfüllen können.'
In einem zweiten Gespräch sagt Johannes:
‘Du musst einmal eine Woche lang versuchen, deine geübte Wachsamkeit auf deine eigenen Handlungen zu richten und auf deine ... Impulse. Auf das, was in dir an Wünschen, Verlangen, aufkommt. Nicht auf deine Gefühle, sondern auf das, was du willst.’ (...)
Es war, als ob er das Licht angemacht hätte. Es beleuchtete mitleidlos mein Triebleben. Oh, ich kannte die Antriebe meiner Gegner so gut! Nun sah ich sie in mir selbst, jede Bewegung, jeder Impuls wurde so intensiv erlebbar, dass ich mir weh damit tat. Der Schmerz in meinen Knochen verblasste bei dieser Berührung mit meinem eigenen Triebleben. In jeder Bewegung, sogar jedem Impuls, der vorausgeht, sah ich etwas Hässliches.'
Es gelingt Gerrit nur kurz, dies aufrechtzuerhalten, dann muss er Johannes erneut um Rat fragen. Dieser sagt:
‘Es ist dennoch ein Lichtquell in dir, ein vorsichtiges Gewissen...’ ‘Das ist da seit der ersten Begegnung mit Beato.’ ‘Von dem Punkt aus willst du etwas anderes als der Rest deines Willens will... Versuch einmal, deine Wachsamkeit damit zu verbinden. Allein damit. Du hast eine enorme Kraft, Gerrit. Wenn die zum Guten gekehrt werden kann ... dann ist das so etwas wie eine Kernexplosion, aber aufbauend.'
Von diesem Moment an gibt es nur noch eines, was Gerrit beschäftigt: diese Herausforderung anzunehmen und das Unmögliche zu vollbringen.
In „Himmlische Rose“ schreibt Beato über die Veränderung, die Gerrit durchmachte:
Beim nächsten Mal, wo ich ihn sah, hatte er sich total verändert. Es ist nicht auszudrücken, was geschehen war. Er erzählte es mir auch nicht. Dennoch hatte ich das Gefühl, exakt zu wissen, was geschehen war – als ob ich dabei gewesen wäre. Er sah noch genauso aus, Gerrit war Gerrit. Ebenso gut gepflegt und gekleidet. Die Veränderung lag in seinen Augen. Auch in seiner Haltung, seiner Geste, dem Timbre seiner Stimme. Es war eine ‘qualitative’ Veränderung, so ungeheuer, so beeindruckend, so rührend... Er war empfänglich geworden. Vielleicht war er der empfänglichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er schien keine einzige Gegenwehr mehr zu haben, der volle Umfang der Antipathie hatte ihn verlassen. Er schien mir verletzlich, voller Hingabe und Andacht.
‘Alles rührt mich tief, Beaat. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das alles verarbeiten soll, ich habe kein Schild mehr, und meine Rüstung ist verschwunden. Ich kann nichts mehr abweisen, alles scheint gut zu sein, so wie es ist. Alles ... außer Gerrit, wie er war. Gegen ihn habe ich auch keine Gegenwehr, ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Er befindet sich da irgendwo –’ Er machte eine Gebärde mit seinem Arm. ‘Und nichts ist so scheußlich wie er.'
Diese große innere Veränderung ist für Beato beeindruckend:
Gerrits neue Seinsweise rührte auch uns, uns alle. Wenn man Abschied von ihm genommen hatte, fühlte man, wie seine ‘Seelenhaltung’ in einem zurückblieb. Man war dann selbst für einige Zeit ganz und gar empfindsames Gewahrsein. Das war ein Geschenk, denn es ist die Haltung eines Kindes, und diese ist im Erwachsenenalter so schwer zurückzugewinnen. Mit all unserer inneren Entwicklung empfingen wir von Gerrit immer wieder ein Geschenk, wir fühlten uns berührt von der Gnade des Wesens, das seine Umkehr ... möglich gemacht hatte.
Gerrit schreibt schließlich in sein Tagebuch („Inferno“):
Alles muss dann absterben und in einem anderen Boden ruhen. Dieser muss für einen neuen Leib sorgen, der die Qualitäten haben wird, um das kräftige Vorhaben auszuführen. Aber dieser andere Boden ist nicht das Grab, nicht die Erde ... es ist die geistige Welt, Hölle und danach Himmel.
Schließlich stirbt Gerrit friedlich. Beato blickt hierauf zurück:
Sophie und ich waren bei ihm, als er starb. Es gab keinen Todeskampf, denn er wollte gehen, und er war kein ängstlicher Mensch, hatte keine Angst vor dem Unbekannten. Er lag ruhig im Bett, seine Hände gefaltet, wie ein Heiliger im Gebet. Während er starb, schaute er mich an ... das heißt, er sah mich an, bis sein Blick erstarrte, und ich fühlte, wie seine enorme Willenskraft, sein kaum geborenes Ich, sein Gefühlsleben und sein noch ohnmächtiges Denken sich frei machten, frei, frei ... um sich der Gebundenheit in Gott und Seinen himmlischen Hierarchien zu übergeben. Für mich war seine Willenskraft mächtig fühlbar, sein guter Wille, sich zu entwickeln, zu verändern.
Nach dem Sterben verliert Beato den Kontakt mit Gerrit nicht („Himmlische Rose“):
Ich konnte mich nicht oft genug auf diesen Lebensprozess von Gerrit besinnen, der sich im Laufe von fünfzehn Jahren vollzogen hatte, mit einer gewaltigen Apotheose noch vor seinem Tod. So sah ich nach seinem Tod immer mehr die Bedeutung dessen. Die Liebe blieb, sie ließ uns einander ‚aufsuchen’, jedes Mal wieder. Er wurde für mich das Lehrbuch der Technik des Bösen. Ich konnte ihm jede Frage vorlegen und fand dann innerhalb einer gewissen Zeit wie zufällig die Antwort. Ich half ihm, seine jungen Flügel erheben zu lernen, indem ich meine Liebe in ihn übertrug, ich wollte ihn aufheben, ihm einen Blick in das Geistgebiet gönnen, das für ihn verschlossen war. Ich wollte ihm auch jetzt etwas geben, wodurch er sicher sein würde, seinem Impuls bis in die Prüfungen eines nächsten Erdenlebens hinein treu zu bleiben. Ich wollte, dass das Streben, das durch einen Blick in das reine Geistgebiet geweckt werden würde, auf Erden zum Suchen nach dem Geist führen würde. Denn das verliert man als Mensch am schnellsten: eine Neigung, durch allen Genuss hindurch geistig zu suchen.