Christus und das menschliche Denken
21-02-2016 Buchbesprechung von Holger Niederhausen Im Zentrum der Anthroposophie steht ein Aufruf: die Spiritualisierung des Denkens. In seinen Vorträgen über Thomas von Aquin hat Rudolf Steiner geschildert, wie am Ende der Scholastik weltgeschichtlich eigentlich eine Frage unbeantwortet geblieben war und für die Zukunft da stand: Wie kann das Denken selbst christlich gemacht werden? An anderer Stelle sprach Rudolf Steiner die erschütternden Worte aus, dass die Anthroposophie gerade die Sprache des Christus ist.Dieser letzte Satz kann nur dann wirklich verstanden werden, wenn zumindest eine Sehnsucht danach besteht, die Antwort auf die erste Frage in der Realität zu verwirklichen. Indem das Denken „christlich gemacht wird“, wird im Denken selbst das Christus-Wesen erlebt. Das Denken christlich machen und das Denken spiritualisieren ist ein und dasselbe – und die Verwandlung des Denkens, die auf diese Weise geschieht, lässt das Denken zugleich zum Auge für das in ihm waltende Wesen werden.
Mieke Mosmuller hat in ihrem soeben erschienenen Buch einen Weg beschrieben, auf dem dieser innige Zusammenhang zwischen dem Christus-Wesen und dem menschlichen Denken immer mehr erlebt werden kann. All ihre Bücher und ihre Arbeit stehen im Lichte der Verwandlung des Denkens in diesem Sinne. In diesem neuen Buch steht nun aber die Frage nach „Christus und dem menschlichen Denken“ ganz unmittelbar im Mittelpunkt – wie auch schon in „Der Heilige Gral“ (2007), nun aber als eindrücklicher Übungsweg.
Das reine, lebendige Denken
Der Leser erlebt zunächst die ganze Abstraktheit des gewöhnlichen Denkens, das über die Laute der Worte und das Geistige der durch sie hindurch sich ausdrückenden Begriffe fast ohne alles bewusste Erleben hinweghuscht. Mieke Mosmuller macht wieder aufmerksam auf den realen Lautgehalt der Sprache – und dann auf die Begriffsseite der Worte.
Ausführlich geht sie daraufhin auf das Wesen der Meditation ein – am Beispiel der Worte „Die Weisheit lebt im Licht“. Die Entwicklung eines reinen Denkens ist die erste Stufe auf dem Wege der Annäherung an Christus im Ätherischen:
„In Wirklichkeit wird durch die Konzentration und die Meditation das Denken zunächst nicht lebendiger, sondern nur rein. Das ist dennoch wirklich das Erste, was wir erstreben wollen müssten, wenn wir Annäherung an den Logos suchen.“ (S. 49).
Das Erringen eines reinen Denkens bedeutet zum einen, alles Persönliche außerhalb des eigenen Denkens zu halten, andererseits aber, immer mehr zu lernen, Begriff und Begriff auch wirklich in reiner Weise miteinander zu verbinden. Dies wird am Beispiel des JohannesPrologs vertieft und zu einem Erleben gebracht.
Das Entwickeln eines reinen Denkens ist aber nur die erste Stufe der Läuterung der ganzen Seele. Auf diese notwendige Katharsis der ganzen Seele, die dadurch zur Sophia wird, weist Mieke Mosmuller nun hin. Dann kann ein entscheidender Schritt vollzogen werden: Das Heraustreten aus sich selbst und das Anschauen des Denkens selbst. Mit diesem Schritt wird das Denken nicht nur rein, sondern auch lebendig – es ist eine „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“:
„In der Katharsis werden die Denkbewegungen im Ätherleib anschaulich. Erleuchtung ist dies noch nicht. Zuerst muss noch viel ausgehalten werden, bevor das menschliche Denken in eine solche Metamorphose gekommen ist, dass es wirklich Affinität mit dem ursprünglichen Denken des Logos, von Christus, zu bekommen beginnt.“ (S. 62).
Das Heraustreten des Denkers als Zuschauer aus dem geläuterten Denken führt zur Anschauung des Geistes in seiner ersten Form:
„Der Intellekt des Menschen ist in der modernen Zeit an sich ein rein geistiger Prozess. Nur insoweit Wünsche und Gefühle, Erinnerungen und Sinneseindrücke darin aufgenommen werden, bekommt er einen selbstsüchtigen Charakter und wird aus dem rein Geistigen in andere Gebiete gebracht. Der Intellekt an sich jedoch ist rein geistig. Nur hat er allen geistigen Inhalt verloren. [...] Darum ist diese Ausnahmeposition, diese Zuschauerposition des Menschen, der sich außerhalb des Intellekts stellt, von solcher Wichtigkeit, weil der Intellekt dann die erste Anschauung des reinen Geistes wird.“ (S. 64).
Im Weiteren geht Mieke Mosmuller darauf ein, wie das Wirken der Widersacher zum heutigen Bewusstsein geführt hat und wie der luziferisch-ahrimanische Intellekt wieder Verwandtschaft mit dem Logos bekommen kann, indem die Seele sich die Grundstimmung der Verwunderung, Ehrfurcht und geduldiger Hingabe erringt und alle intellektuelle Eitelkeit ablegt.
„Das gibt eine solche Entspannung und Hingabe des Erkenntnisprozesses, dass man auf dessen Kraft aus dem eigenen Astralleib heraustreten kann und die Position des Zuschauers wiederfinden kann, der auf das eigene menschliche Wesen in Imagination, Inspiration und Intuition schaut.“ (S. 70).
Nun geht sie auf das Verhältnis von Denken und Wahrnehmung ein, wie es Rudolf Steiner bereits in seinen Grundwerken beschrieben hat: Alle Sinneswahrnehmung erhält ihren Inhalt erst aus dem Denken, sie hält den „immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form fest“ (Steiner) und ist so ein Spiegelbild unseres Geistes.
Dasjenige, was das reale Denken im Astralleib ist, bringt bestimmte Gedankenformen im Ätherleib hervor, die durch das Gehirn gespiegelt werden – was dann zur gewöhnlichen, abstrakten Erkenntnis wird. Einen Punkt jedoch gibt es, wo das Denken unmittelbar in Berührung mit dem Logos ist: den Punkt der Einsicht. Dieser liegt jedoch im Willensgebiet des Denkens und wird gewöhnlich ganz verschlafen. Lernt man, in diesem Punkt zu verweilen, lebt man mit dem Denken, Fühlen und Wollen außerhalb des Leibes, in der Intuition:
„Es ist dasjenige, wie der Mensch gedacht ist, was einen jetzt denkt. Es ist, was der Mensch einst sein wird, was jetzt das eigene Wesen durchwirkt. Das Leben des eigenen Wesens wird durchwebt. Ganz und gar aus dem Jetzt herausgehoben empfindet man sich, in einem Zeitgeschehen, in dem Alpha und Omega eins sind. [...] In nichts ist dieses Denken mit dem gewohnten, bekannten Denken zu vergleichen, und darum ist es unvorstellbar. Es ist eine Kraft, die unaussprechlich ist, die man ertragen lernen muss, die als Licht wirkt, aber als nicht geoffenbartes Licht; man denkt ohne einen Gegenstand; durch einen spricht das unaussprechliche Wort.“ (S. 88).
Anhand von Rudolf Steiners Worten aus seinen „Leitsätzen“ zeigt Mieke Mosmuller nun, dass der Mensch, der die Freiheit nur im Intellekt erreichen will, zu Ahriman geführt wird – und dass nur eine wirkliche Umwandlung des Menschenwesens in eine Verbindung mit Michael und Christus führen kann. Beispielhaft geht sie hier auf das „Durchchristetwerden der Erinnerung“ ein.
Im zweiten Teil ist erneut die Läuterung der Seele das zentrale Thema, denn: „Ohne moralische Entwicklung findet man das reine Denken nicht – aber ohne das reine Denken findet man die freie Moralität nicht.“ (S. 107).
„Ein Mensch kann nicht zu einer bewussten Annäherung an Christus kommen, wenn er nicht bereit ist, die menschliche Seele, und also auch die eigene Seele, kennenzulernen – wie sie der Schauplatz für den Kampf der Gegenmächte ist und sich gerade gegen dasjenige widersetzt, was das Ich erreichen will.
Das Ich ist anfangs auch Teil der Seele, und es fasst im rein Geistigen der Intelligenz den Willen, das Denken zu spiritualisieren. Doch ohne Mitwirkung der Seele geht dies nicht, und die Seele widersetzt sich, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, je nachdem, wie sehr das Ich in früheren Inkarnationen bereits an der Läuterung der Seele gearbeitet hat.“ (S. 106).
Tiefgehend wird der Leser nun in die Frage hineingeführt: Was ist das Gute? Auf diesem Weg wird jene Grundstimmung in der menschlichen Seele entdeckt, die ihr die treibende Kraft zur Vervollkommnung gibt – und aus der zugleich die Liebe entspringt.
Christus im Ätherischen
Der dritte Teil wendet sich dann „Christus in der ätherischen Welt“ zu. Zunächst wird erlebbar, was alles in der heutigen Zeit ein Erleben des Ätherischen geradezu unmöglich macht – was auf physischer und seelisch-geistiger Ebene dieses Ätherische buchstäblich lärmend „übertönt“.
Dadurch ist längst alles, was nicht sinnlich wahrnehmbar an Wirksamkeit zwischen den Dingen existiert, dem heutigen Menschen verloren gegangen. Wenn aber in einem rein und real werdenden Denken diese Wirksamkeit im Bewusstsein wiedergewonnen wird, wird der Logos selbst wiedergefunden. Für das Erleben wird dies zu einer unmittelbaren Erfahrungs-Tatsache.
Die wachsende Übereinstimmung der Seele mit dem Wahren, Schönen und Guten macht den Menschen reif, im Ich den Christus zu empfangen, der sich dann im Ätherleib offenbart. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Denken ein ganz und gar organisches werden muss, das immer mehr ein Gleichnis der göttlich-geistigen, lebendigen Weisheit wird. Damit gewinnt der Mensch Anteil an der Auferstehungsleiblichkeit:
„Das Erden-Ich muss wirklich lernen, das Denken nicht nur als Spiegelung durch das Gehirn zu haben, sondern gleichsam als gestaltet durch den organischen Bau des Skeletts. Man [...] muss erfassen, dass im physischen Leib der Kopf die Form der Vergangenheit trägt, die Gliedmaßen aber die Form des Leibes für die Zukunft, dass in diesem Sinne Denken mit dem Skelett ein Denken werden kann, das wahrhaftige Formkraft in sich hat, die noch tiefer reicht als die Formkraft des Ätherleibes, der den jetzigen physischen Leib gestaltet.“ (S. 147).
Ausführlich geht Mieke Mosmuller nun darauf ein, wie Rudolf Steiner in Bezug auf das Ätherische auch vom „Land Shamballah“ sprach – und wie dies mit dem realen Wesen des Denkens zu tun hat, mit seiner „lichtdurchwobenen, warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit“, wie Rudolf Steiner es in seiner „Philosophie der Freiheit“ nannte. Die geistige Welt des Ätherischen wird zwischen Denken und Wahrnehmung gefunden.
Eine nächste Stufe hat mit einer völligen Umkehrung des Willens zu tun:
„Es ist jene Willenskraft, mit der man bewusst lernt, sein Schicksal wirklich in seiner Totalität ganz und gar zu wollen, die zu einer vergeistigten Liebeskraft wird. Und diese vergeistigte Liebeskraft versetzt den meditierenden Menschen in die Möglichkeit, die geistige Außenwelt intuitiv zu erfassen, das heißt, in ihr wirkliches Wesen überzugehen.“ (S. 171).
Mieke Mosmuller zitiert hier entscheidende Passagen aus dem Band „Philosophie und Anthroposophie“ und macht darauf aufmerksam, dass das hier beschriebene Erwachen dessen, was Rudolf Steiner das „Bewusstseinswesen“ nennt, mit seinem eigenen „Umschwung“ im 36. Lebensjahr zu tun hat. Dann weist sie darauf hin, welche Bedeutung dieser Punkt in der inneren Entwicklung hat:
„In Wirklichkeit ist das In-das-Bewusstsein-Treten dieses geistigen Willenswesens, das nicht mit den Bewusstseinsprozessen in Abbildern, sondern mit solchen in Wirklichkeiten zu tun hat, die Einweihung in das intuitive Element. Da erst dringt der geistige Forscher in die wahre geistige Welt vor und vereint sich da mit dem eigenen Wesen und dann mit dem Wesen der geistigen Welt.“ (S. 175).
Mit diesem Schritt ist wirklich ein vollständiger zweiter Mensch geboren, mit einem völlig verwandelten Denken, Fühlen und Wollen. Und nun beschreibt Mieke Mosmuller einen Schritt, der über das bereits im Ätherischen lebende denkende Wahrnehmen nochmals hinausgeht, nämlich die Vergeistigung des reinen Wahrnehmens, wodurch die Illusion der Trennung von Ich und Welt vollkommen überwunden wird. Bewusst wird, dass das Ich eins mit den Dingen ist,
„[...] die nun als sinnliche Wahrnehmung eine geistige Gestalt annehmen. Das schöpferische Weltenwort spricht noch nicht mit Worten, aber in Imaginationen. [...] Die ursprünglichen ätherischen Bewegungen, die auch den Sinnen selbst zugrunde liegen, beginnen, sich als ätherische Welt in der Welt um uns herum zu bewegen.“ (S. 188).
Alles bisher Geschilderte zusammenfassend, macht Mieke Mosmuller noch einmal deutlich, dass diese ganze innere Entwicklung vom Ich ausgeht und geführt sein muss – und dass sich hier Mut und Demut in stärkstem Maße vereinen müssen. Der Weg führt dabei vom leibgebundenen „ich“ zum wirklichen Ich, das den Christus in sich aufnehmen kann:
„Unsere Zeit ist die Zeit der Durchdringung des Ich mit dem Christus-Jesus-Ich. Der Abstand zwischen beiden ‚Ich-Welten’ ist unermesslich. Die Bescheidenheit kann nie groß genug sein. Es kann nur ein starkes Ich sein, das diese Kraft des Christus-Jesus-Ich in sich ertragen kann. Es ist also ein Weg der Selbstlosigkeit, der auf dem Resultat der Selbstsucht aufgebaut ist: Das Suchen und Finden des eigenen Ich als Wirklichkeit – nicht jenes Ich, zu dem man träumend ‚ich’ sagt, wovon man weiß, dass man es ist –, das Ich als Wesen, das sich im denkenden Denken als übersinnliches Selbstbewusstsein bewusst wird und das sich mit dem wirklichen Willens-Ich verbindet, welches nicht nach außen aktiv ist, sondern sich völlig in der inneren Entwicklung entfaltet.“ (S. 212).
In einem großartigen Abschluss macht Mieke Mosmuller deutlich, wie der beschriebene Weg dazu führt, dass der Mensch in einem völlig verwandelten Denken, Fühlen und Wollen dazu kommen kann, ganz real das Paulinische Wort „Nicht ich, sondern Christus in mir“ wahrzumachen und mit einem so geläuterten, vergeistigten Denken, Fühlen und Wollen im Ich zu einem Christophor zu werden.
Mit diesem Buch ist etwas gegeben, was man nicht annähernd angemessen in Worte fassen kann – denn ein Weg wird beschrieben, der dasjenige verwirklicht, was Anthroposophie im tiefsten Sinne ist, und dies geschieht nicht aus der Theorie heraus, sondern aus realer Erfahrung. Dieses Buch zeigt, wie der Mensch sich jenem Wesen, das selbst das Weltenwort ist, immer und immer tiefgehender nähern kann – indem er die Anthroposophie wahrmacht. Anthroposophie ist nicht nur die Sprache des Christus, sie ist der Weg zu Ihm.