Das lebendige Denken und die Eurythmie
14-02-2020 Artikel von Mieke MosmullerEine Grundlage in der Anthroposophie ist die Entwicklung des reinen Denkens, das dadurch, dass es sich zur Denktätigkeit vertieft, zu einem lebendigen Denken wird. In diesem lebendigen Denken kann der meditierende Mensch leben lernen und voller Verwunderung ausharren. Keine gewöhnlichen Gedankeninhalte gibt es da mehr, sondern nur noch bedeutungsreiche Denkformen, die in einer gefühlsartigen Bewegung fortwährend gestaltend da sind, von der höchsten Seligkeit erfüllt, bis in die tiefste Trauer hinein; von der erregten, erwartungsvollen Hoffnung bis in die ruhige, wartende Erfüllung. Ein ganz neues Leben entsteht, das man im alltäglichen Bewusstsein nur unendlich abgeschwächt kennt. Und der Mensch versteht dann erst richtig Rudolf Steiners Aussage: In dem lebendigen Denken ist man in einer künstlerischen Verfassung. Man lernt die ureigentliche Kunst kennen, wo der Geist selbst die Formen gibt, die die Seele dann jubelnd, begeistert, erlebt.
In Seminaren und Büchern habe ich immer wieder gesagt: Wäre ich doch Komponist, dann könnte ich es musikalisch hören lassen, was im reinen lebendigen Denken erlebt werden kann!
Vor einigen Jahren nun wurde ich mir bewusst, dass dasjenige, was man in diesem lebendigen Denken hat – die geistig-seelischen Denkbewegungen, die dynamisch verlaufen–, auch sichtbar gemacht werden könnte, nicht nur hörbar. Und dass es schon eine anthroposophische Kunst gibt, die dies für eine andere menschliche Tätigkeit gestaltet: die Eurythmie. In der Eurythmie wird die Sprache sichtbar, oder die Musik wird sichtbar.
Ich empfand, dass man in der Eurythmie etwas sieht, was zwar nicht Denken ist – sondern Sprechen –, was aber dem doch sehr nahe kommt. Durch das lebendige Denken kann der Mensch selbständig miterleben, dass z.B. ein A Verwunderung ist, ein M ein einfühlendes Verstehen... Im lebendigen Denken sind Verwunderung und einfühlendes Verstehen Elemente des da lebenden Denkens. Die Sehnsucht kam auf, das lebendige Denken sichtbar zu machen!
In mehreren Gruppen studieren wir Die Philosophie der Freiheit. Sie ist eine Partitur für das lebendige Denken. Man muss sie aber mit Begeisterung lesen lernen und sich für die dynamischen Denkbewegungen öffnen lernen, die darin walten. Sie führen zu einem eigenen lebendigen Denken, aber man entwickelt dies nie, wenn nicht eine Ahnung entsteht, was eigentlich gemeint ist. Es geht ja nicht nur um die philosophische Bedeutung, sondern auch, vielmehr, um die organische Folge der Gedanken, darin liegt das Leben verborgen. Und diese Dynamik kann man nicht wirklich darstellen – obwohl ich mir dafür viel Mühe gebe.
So haben wir im Herbst ein mehrtägiges Seminar in den Niederlanden mit dem Thema Imagination, Inspiration, Intuition gehabt. Für das intuitive Element habe ich eine Passage aus Die Philosophie der Freiheit genommen, die für die Dynamik beispielhaft ist. Es kamen auch wirklich tiefgehende Erlebnisse zustande. Aber wie wunderbar wäre es, wenn wir so eine Passage eurythmisch darstellen könnten. Dann würde nicht der Text eurythmisiert werden, sondern die lebendige Denkbewegung, in ihrer Fülle der gedanklichen Dynamik!
Dies ist der Abschnitt:
‘Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten – und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch –, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann.’
Wenn man eine solche Passage im lebendigen Denken mitdenkt, dann ist das ein wunderbares Geschehen. Es gleicht in nichts den gewöhnlichen schattenhaften Gedanken, die alle mehr oder weniger gleichwertig sind, als ob es einen Sozialismus der Gedanken gäbe! Im Gegenteil, die Gedanken werden lebendige Wesen, die sich ganz munter untereinander verhalten, glücklich in ihrer Verschiedenheit, wodurch die dynamische Bedeutung entsteht…
Nun haben Raphaela Kühne und Ruth Franssen vor, die Eurythmie mit einem Bewusstsein der Form frisch zu gestalten. Im Einklang damit sehe ich eine Möglichkeit, das lebendige Denken sichtbar werden zu lassen. Einfach wird es nicht sein, denn es gibt noch nicht viele Anhaltspunkte. Die Frage ist: Wie gestalte ich die Denkbewegung, die innerlich gestaltend wirksam ist, in eine Bewegung mit dem menschlichen Leib um? Ich empfinde die reale Möglichkeit, sie muss jedoch auch noch Wirklichkeit werden.