Eine Impression von Giovanni Segantini

30-12-2022 Artikel von Theophil Urech

Giovanni Segantini, Maler * 15. Januar 1858 † 28. September 1899 

Seine Bilder sind wohlbekannt, jedoch seine Briefe und Schriften weniger, obwohl sie sein
Leben in einem erstaunlichen Licht erscheinen lassen: 

An die Schriftstellerin Neera ca. 1890: 

„Meine Seele.
Mit meinem Körper, in den das Schicksal meine Seele legte, hatte ich viel zu kämpfen. Er war verlassen und Waise mit sechs Jahren, so allein ohne Liebe,fern von allen wie ein toller Hund.
In solchen Verhältnissen konnte ich nur verwildern und gegenüber den bestehenden Gesetzen war ich stets von Unruhe und Aufruhr erfüllt. Die menschliche Gesellschaft verdeckte meinen durch Schmutz und Hunger elenden Körper, aber sein Schmutz und Hunger erreichten mich nicht; im Gegenteil, je mehr sie mit Dreck nach meinem elenden Körper warfen, um so mehr erstarkte ich in dem Gefühl der Liebe für uns alle, die wir elend sind. Niemals vergoss ich Tränen ob meiner Schmerzen, weder für die meiner Seele, noch für die meines Körpers; niemals liess ich den Geist oder das Herz müssig gehen, denn von ihnen erfuhr ich das Geheimnis des Lebens und der Welt umspannenden Liebe. Stets liebte ich meine armen Gefährten, Alte und Kinder, denn es kam mir vor, als ob die Freundschaft zu ihnen mich ein wenig reinige. Niemals suchte ich einen Gott ausserhalb von mir selbst, denn ich war überzeugt, dass Gott in uns sei, dass jeder ein Teilchen davon besässe oder erringen könne durch schöne, gute und edelmütige Werke; dass jeder von uns ein Teil Gottes sei ebenso wie ein Atom und ein Teil des Weltalls. Ich suchte keine andere Glückseligkeit, als die einzig wahre, die des Gewissens. Ich liebte und achtete die Frauen, wie immer ich sie auch traf, weil sie den Leib der Mutter haben.” 

Man staunt über diese Gewissheit des aus Gott geboren sein. 

Hier aus „Spätere Aufzeichnung:” 

„Es war ein Festtag, ich lehnte mit aufgestütztem Ellenbogen an der Brüstung meines kleinen Dachfensters und schaute auf die Türme der lombardischen Hauptstadt, die von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet war. 

Seit einigen Tagen empfand ich in mir ein grenzenloses Gefühl der Einsamkeit, ich war neunzehn Jahre alt, und ein brennendes Verlangen nach Liebe erfüllte meinen Geist. An jenem Tage hatte ich ein Konzert gehört, und die Musik, welche meine Seele freigemacht hatte, erhob sie auf Flügeln unsagbaren Entzückens; in den wirbelnden Reihen schlossen sich tausend verschwommene Formen zusammen und einten sich zu Gebilden von süssem Rhythmus. Dann wieder schwammen sie auseinander verrauchten und liessen durch die Luft einen Rosenregen herniederirren, und mein Geist, der wieder in die Wirklichkeit des Lebens und der Dinge zurückfiel, blieb süss betäubt, gefangen von dem Gedanken der Liebe. Als ich ins Freie trat, kam ich mir grösser vor, auf meinem Antlitz lag ein sonniges Lächeln, und die Menschen, dich ich traf, schienen mich mit Wohlwollen anzuschauen.” 

Die Einsamkeit, der Trost, die Liebe und der Rosenregen, welche Möglichkeiten. 

Aus dem Doppelgängererlebnis von Segantini: 

„Ein hässlicher Traum.
Traurig sass ich an einem geheimnisvollen Orte der Zimmer und Kirche zugleich war. Eine seltsame Figur stand mir verblödet gegenüber, ein Wesen von garstigen, abstossenden Formen.”
Dann zum Schluss:
„Es war eine Seele darin, ein Teil meiner Seele; an diesem Toten ist ein Teil meines Fleisches, die Seele befindet sich dort oben, denn ich fühle, dass etwas von mir in der Nähe Gottes steht” >

Hier kann der Unterschied gefühlt werden zwischen den gefühlten Gefühlen,( den Reaktionen) und dem „fühlenden Fühlen” das sich findet. (Es war ein Thema von G.Kühlewind)< 

Ein Text, aus dem hervorgeht, wie er sich empfunden hat zwischen Vergangenheit und Zukunft: 

An den Dichter Domenico Tumiati, Maloja, den 15. September 1895. 

„Ihr liebenswürdiger Gruss hat mir aufrichtige Freude bereitet. Ich habe grossen Glauben an die
Zukunft, an eine sogar sehr nahe Zukunft, in der wir uns alle, die letzten und erwählten Blüten aus einer Kultur der Mittelmässigkeit, die zum Sterben geht, zusammenrufen von einem Ende der Welt bis zum anderen, und unsere 

Stimme und unsere Gedanken von allen Gleichgesinnten verstanden werden. Das Herdenvieh wird uns nicht mehr begreifen, aber wie den Talisman im Märchen wird es uns gleichwohl bewundern. 

Wir sind der letzte Schein eines Sonnenunterganges und wir werden nach einer langen Nacht das Morgenrot der Zukunft sein. 

Segantini hat gelebt vom 15.1. 1858 bis zum 28.9. 1899. 

Aufwärts, junger Dichterfreund, alles ruft Sie. Uns gehört der Duft der Rosen und der Gedanke, der sich frei macht, und sich mit Schönheit umgibt, die die Natur dem gewährt, der ihr all seine wahre, tiefe und leidenschaftliche Liebe schenkt. 

P.S. Die Kunst ist die Liebe in Schönheit gehüllt.

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