Johannes der Evangelist, † 101 n. Chr.

18-01-2020 Artikel von Jos Mosmuller

Als Einleitung zu Mieke Mosmullers Pfingstseminar 2018 über die große Johannes-Apokalypse sprach ich über die Individualität von Johannes. In der Bibel findet man im Neuen Testament vier Evangelien. Die ersten drei sind die sogenannten synoptischen Evangelien, das Matthäus-, das Markus und das Lukas-Evangelium. Diese drei Evangelien geben auf eine übereinstimmende Weise die Geschehnisse wieder. Das vierte Evangelium, das Johannes-Evangelium, weicht deutlich davon ab. Es hat eine ganz andere Art, die Geschehnisse zu beschreiben. Durch die Erzählung hindurch erlebt man einen geistigen Entwicklungsstrom. Das wird auch durch den Sprachgebrauch deutlich, der sehr künstlerisch und poetisch ist. Wenn man in den synoptischen Evangelien über den Apostel Johannes liest, scheint das ein ganz anderer Mensch zu sein als der Johannes aus dem Johannes-Evangelium. Im Johannes-Evangelium wird der Name Johannes nur für Johannes den Täufer verwendet. Es wird da nicht über Johannes den Apostel gesprochen, sondern über den Jünger oder Apostel, den der Herr liebhatte. Mit dieser Benennung wird er eigentlich immer angedeutet. In den synoptischen Evangelien wird gesagt, dass Jakobus und Johannes, die Söhne des Fischers Zebedäus, zu Bethsaida am Tiberischen Meer mit Fischernetzen am Werk sind, als der Herr Jesus vorbeikommt. Er ruft sie, und sie lassen ihre Netze liegen und folgen ihm. Auch die Apostel Petrus, sein Bruder Andreas und Philippus waren Fischer. Sie wohnten ebenfalls in der Stadt Bethsaida am Tiberischen Meer, auch See von Genezareth oder Galiläa genannt. Johannes und Jakobus wurden vom Herr als die Söhne des Donners gerufen. Sie erhielten den Namen Boanerges oder Donnersöhne (Mk 3,17). Von Rudolf Steiner wissen wir, dass Donnersohn bedeutet, dass die Seele in den Zustand der Gemüts- und Verstandesseele gekommen ist. Simon Petrus wird Petrus, Petra oder Felsen genannt, auch ein Ausdruck für die Verstandesseele. Dies ist der Zustand der Seele, zu dem die Menschen sich in der griechisch-römischen Zeit am weitesten entwickelt hatten. Vom 15. Jahrhundert, der Renaissance, an konnten die Menschen zu einer nächsten Phase der Seelenentwicklung, der Bewusstseinsseele, kommen.

Die drei am weitesten entwickelten Apostel waren darum Petrus, Johannes und Jakobus. Sie wurden von Jesus auf den Berg Tavor mitgenommen und erleben da die Transfiguration und Verherrlichung von Jesus, der in einem strahlend weißen Licht erscheint, neben ihm Moses auf der einen Seite und Elias auf der anderen Seite. Sie sind ganz darin aufgenommen, und als sie wieder zu sich kommen, sehen sie nur noch Jesus, Elias und Moses sind verschwunden. Und dann kommt bei ihnen die Frage auf, wie es mit Elias ist, denn von Elias wurde im jüdischen Glauben erwartet, er werde zurückkommen, um alles zu erneuern.
Und Jesus antwortet: Ja, Elias ist schon wiedergekommen. Es zeigt sich, dass er Johannes den Täufer meint, dies wird dann auch sehr deutlich ausgesprochen. Die Bibel spricht hier unverkennbar über Reinkarnation.

Genezareth
Der See Genezareth

Johannes der Täufer erweist sich als eine wichtige Individualität, von der der Herr verkündet, dass er der Prophet Elias ist und wiedergekommen ist. Aber sein Schicksal ist, dass er durch König Herodes gefangengesetzt wird und letztlich enthauptet wird. Von Rudolf Steiner wissen wir, wie Johannes der Täufer nach seinem Tod in den Aposteln weiterwirkt.

Wenn man dann von den drei synoptischen Evangelien zum vierten Evangelium, dem Johannes-Evangelium, übergeht, findet man da eine bemerkenswerte Erzählung. Es wird da gesagt, dass ein Freund des Herrn krank ist, und dieser Freund heißt Lazarus. Er wohnt zusammen mit seinen zwei Schwestern Maria und Martha in Bethanien, zwei bis drei Kilometer südöstlich von Jerusalem, auf der anderen Seite des Ölbergs. Jesus kam hier oft zu Besuch. Lazarus kommt von Eleazaros und bedeutet ,Gott hat geholfen’.

Es wird erzählt, dass Lazarus krank ist und dass der Herr in der Stadt Peräa davon hört, aber noch drei Tage wartet, bevor er den Kranken besuchen geht. Als er schließlich in Bethanien ankommt, ist Lazarus schon vier Tage gestorben.
Martha und Maria gehen ihm entgegen und sind verzweifelt, weil Lazarus gestorben ist. Aber Jesus sagt: Er wird auferstehen und leben. Maria und Martha gehen mit Ihm zum Grab, wobei er weint und dann ruft: ,Lazarus, komm heraus’. Und Lazarus steht auf und kommt wirklich aus dem Grab.

Und von diesem Moment an, schreibt Rudolf Steiner, ist es so, dass die Individualität von Johannes dem Täufer sich auf Lazarus konzentriert. Von diesem Moment an ist Lazarus nicht mehr Lazarus, sondern Lazarus-Johannes. Und dann wird er eigentlich erst der Apostel Johannes. Rudolf Steiner hat die Verbindung zwischen Johannes dem Täufer, Johannes, dem Zebedäussohn, und dem Johannes, der der Evangelist wird, Lazarus-Johannes, beschrieben.
Beim Letzten Abendmahl wird deutlich sichtbar, dass Lazarus Johannes und der Apotel ist, den der Herr liebhat. Der Name Johannes bedeutet im Hebräischen ,Gottes Gnade’.
Er liegt beim Abendmahl an der Brust des Herrn und hört, was im Herrn vorgeht. Darum bittet Petrus Johannes beim Abendmahl: ,Frage den Herrn, wer es ist, der ihn verraten wird’, und Johannes fragt es. Er kann dies fragen, weil der Herr ihn so liebhat und ihm innerlich am nächsten ist.
Johannes steht dann schließlich zusammen mit der Mutter Maria unter dem Kreuz auf Golgatha, und der Herr sagt zu seiner Mutter: ,Frau, siehe, dein Sohn.’ Und zu dem Jünger sagt Er: ,Siehe, deine Mutter.’ Von da an nimmt der Jünger die Mutter zu sich ins Haus. Durch diesen Moment bekommt er die Kraft, das Johannes-Evangelium zu schreiben, und das wird dann später von Johannes auch ausgeführt.

Artemis
Artemis von Ephesus

Nachdem der Herr gestorben, begraben und auferstanden war, reiste Johannes mit Maria zu der griechischen Stadt Ephesus an der Westküste der heutigen Türkei.

Die Stadt Ephesus war seit 550 v. Chr. Durch das Artemis-Heiligtum, das Artemisium, bekannt, ein enormer Tempelkomplex von 8.000 qm. Dieses Artemisium hatte einen Tempel mit den Maßen 110 x 55 m und zwei Reihen dunkelgrüner Marmorsäulen von 18 m Höhe, der der Fruchtbarkeitsgöttin Diana oder Artemis geweiht war. Der Tempel war als einer der sieben Weltwunder bekannt. Mitten in dem Tempel stand die Frauengestalt Artemis, die viele Brüste hatte, um ihren Hals eine Kette mit den zwölf Tierkreiszeichen trug und links und rechts von ihrem Kopf und auf ihrem Kleid viele Löwen, Leoparden, Stiere und Greife trug. Amberfarbene Tränentropfen verzierten das Bild.
Hierdurch entstand der Eindruck eines Lebensbaumes. Sie war die Meisterin der Tiere und das Bild des vorgeburtlichen Lebens.

Im Geburtsjahr Alexander des Großen, 356 v. Chr., wurde von Herostrat eine Fackel in den Tempel geworfen, und hierdurch brannte der Tempel größtenteils ab. 325 v. Chr. wurde er in noch prächtigerem Zustand wiederhergestellt.
Der Römer Plinius der Ältere (23-79 n. Chr.) beschreibt diesen Tempel in seiner ganzen neuen Pracht. 401 n. Chr. wurde der Tempel schließlich durch Christen unter Johannes Chyrsostomos zerstört, nachdem er zunächst noch als Kirche gedient hatte.

Als Johannes im Jahr 50 n. Chr. Nach Ephesus kam und in den Artemistempel ging, um zu beten, fürchteten die Dämonen, die sich inzwischen dort aufhielten. Der Altar und eine Reihe von Säulen stürzten ein.

Hierauf schrieb Johannes in Ephesus das Johannes-Evangelium, aber veröffentlichte es erst viel später.

Ephesus
Artemis-Tempel zu Ephesus, Modell

Im Paulusbrief an die Galater steht, dass Johannes im Jahr 50 n. Chr. In Ephesus so stark predigte, dass er neben Petrus und Jakobus als einer der drei großen Säulen des Christentums betrachtet wurde. Aber gerade weil er so stark und kräftig predigte, kam dies Kaiser Domitian zu Ohren, der die Christen verfolgte. Johannes wurde gefangengenommen und mit dem Schiff nach Rom gebracht. Bei der Porta Latina in Rom wurde er in ein Fass mit kochendem Öl geworfen. Aber wie durch ein Wunder geschah ihm nichts.
Er kam lebend und unversehrt aus dem heißen Öl wieder heraus. Dem Kaiser blieb nur noch eine Möglichkeit übrig, und das war die Verbannung auf die griechische Insel Patmos. Dort wohnte Johannes bis zum Jahr 96 n. Chr. Und schrieb hier die Apokalypse, die Johannes-Offenbarung.
Als Kaiser Domitian im Jahr 96 von seinen Dienern in Rom ermordet wurde, bedeutete das für Johannes das Ende seiner Verbannung, und er konnte Patmos verlassen und wieder nach Ephesus gehen. Er lebte dort noch bis 101 n.
Chr. Und wurde 99 Jahre alt.

Der Dominikaner Jacobus de Voragine (um 1244), Theologe und Erzbischof zu Genua in Italien hat die Legenda Aurea geschrieben. Eine Reihe dieser schönen Legenden handeln von Johannes in Ephesus.

Johannes_Paulus
Johannes der Evangelist mit Petrus, Albrecht Dürer

Die erste Legende ist wie folgt: Als Johannes von Patmos zurückkam und erneut nach Ephesus reiste, begegnete er bei seiner Ankunft der Frau Drusiana, bei der er zuvor immer gewohnt hatte. Es zeigte sich, dass sie gerade verstorben war, er kam an ihre Bahre und fand es so traurig, dass er zum Herrn betete, sie auferstehen zu lassen. Und tatsächlich stand die Frau auf und nahm Johannes mit in ihr Haus, damit er dort wieder wohnen konnte.

Eine andere Legende, die Voragine beschrieben hat, handelt von dem griechischen Philosophen Gratos und Johannes in Ephesus. In philosophischen Diskussionen, die der Philosoph Gratos mit zwei reichen Jungen Männern hatte, sagte er: Man darf nicht auf seinen Besitz vertrauen, man darf nicht auf sein Geld oder Gold vertrauen, bringt es zu mir, dann werde ich es vernichten. Und das tat er, er vernichtete allerlei wertvolle Dinge und Kleider und rief die jungen Menschen dazu auf, die äußere Welt zu verachten.
Darauf mischte sich Johannes in das Gespräch ein und sagte: ,Wenn du vollkommen sein willst, geh hin und verkaufe alles, was du hast, und gibt es den Armen.’ Darauf erwiderte ihm Gratos: ,Wenn Gott wirklich dein Meister ist, dann mach, dass zerfallene Edelsteine wieder heil werden.’ Johannes erbat es innerlich, und die Edelsteine wurden wieder heil, noch schöner als vorher, und Gratos wurde gläubig.
Die jungen Männer verkauften all ihren Besitz.

Eines Tages aber sahen die jungen Männer, dass ihre früheren Diener in prächtigen Gewändern herumliefen und bereuten, dass sie ihren Besitz geopfert hatten. Als Johannes das sah, ließ er die beiden jungen Männer ans Meer an den Strand gehen, um Sand und Kiesel zu holen, und machte daraus Gold und Edelsteine: Kauft hiervon euren Besitz wieder zurück, aber begreift, dass ihr euren himmlischen Lohn verloren habt.

Patmos
Die Grotte der Offenbarung auf Patmos

Hier wirkt Johannes alchemistisch, wie man es im 18. Jahrhundert beim Grafen von Saint Germain wiederfindet, der aus einfachen Steinen die schönsten Diamanten machen konnte. Letztlich kehrten die Jünglinge dann auch wieder zu ihm zurück und flehten ihn an, sie wieder aufzunehmen. Nachdem die Jünglinge dreißig Tage Buße getan hatten, verwandelten sich die Edelsteine wieder in Sand und Kieselsteine – so erzählt die Legende.

Eine andere Geschichte aus der Legenda Aurea erzählt über Aristodemus, den Hohepriester des Artemistempels, der einen Aufstand des Volkes gegen Johannes forcieren wollte und ihn im Tempel ein Opfer für Artemis bringen lassen wollte. Johannes schlug Aristodemus vor, dass jeder von ihnen zu seinem eigenen Gott beten sollte. Aristodemus sollte zur Göttin Artemis bitten, dass die Kirche von Christus einstürzen möge, und Johannes würde zu Christus bitten, dass der Artemistempel einstürzen möge. Darauf stürzte der Artemistempel ein. Aber Aristodemus wollte das Gottesurteil nicht annehmen und stachelte das Volk erneut auf, so dass zwei Parteien für und gegen Johannes entstanden.
Johannes ging darauf zu Aristodemus und sagte ihm, dass er alles tun wolle, um den Streit beizulegen. Aristodemus sagte: ,Ich will dir Gift zu trinken geben. Wenn du davon keinen Schaden leidest und es überlebst, dann glaube ich, dass dein Gott der wahre Gott ist. Davor aber will ich, dass zwei andere Menschen auch den Giftbecher trinken, so dass du sehen kannst, wie es wirkt, und verzweifelt wirst.’ Und er ließ zwei verurteilte Verbrecher kommen und gab ihnen vor dem ganzen Volk den Giftbecher zu trinken, sie waren unmittelbar tot. Danach reichte er den Becher Johannes.
Dieser machte ein Kreuz über dem Becher, und das Gift entwich als eine Schlange aus dem Becher. Danach trank er den Becher aus, und es geschah nichts. Dann gab er Aristodemus seinen Mantel und bat ihn, den Mantel über die gestorbenen Verbrecher zu legen. Das tat er, und die Toten erwachten wieder zum Leben. Da war Aristodemus überzeugt und bekehrte sich zum Christentum.

Die letzte Legende erzählt vom Jahr 101 nach Christus, als Johannes 99 Jahre alt geworden war. Der Herr kam zu ihm und sagte: ,Komm jetzt, mein Auserwählter, es ist Zeit, dass du an meinen Tisch kommst und zusammen mit deinen Brüdern gespeist wirst.’ Johannes wollte unmittelbar kommen. Aber der Herr sagte: ,Am Sonntag sollst du zu mir kommen.’ Johannes wartete bis Sonntag, und wie er es gewohnt war, predigte und betete er auch an diesem Sonntag.
Es waren viele Menschen da, und er bat sie, neben dem Altar, wo er predigte, ein Loch zu graben. Danach stieg er in das Grab, und ein großes Licht umstrahlte ihn, so dass ihn niemand mehr sehen konnte. Danach war das Grab voll mit Himmelsbrot (Manna).

Mana bedeutet auch Manas. Manas ist der Geist, der aus dem Himmel kommt. Hier kommt man auch auf die Bedeutung des Wortes Johannes. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass der Name Johannes bedeutet, dass die Buddhi in Manas kommt, und das ist ein sehr schönes Bild in dieser Legenda Aurea, dass die Buddhi in Manas kommt, dass der Lebensgeist in das Geistselbst hineinkommt.

Ich will mit einer schönen Tradition der katholischen Kirche enden. Die Heiligen sind oft Schutzheilige der verschiedenen Berufe. Und die Berufe, die mit Johannes dem Evangelisten, Lazarus-Johannes, zusammenhängen, sind Schreiber, Verleger und Grafiker, aber auch Korbflechter, Weber, Glockengießer, die Handwerker. Aber das Wichtigste ist, dass er der Schutzheilige der Freundschaft ist. Wie Johannes am Ende seines langen Lebens sagen konnte: ,Kinder, liebet einander.’

Literatur:
Letzte Ansprache Rudolf Steiners vom 28.9.1924
Ergänzende Bemerkungen zur letzten Ansprache, GA 238 Das Christentum als mystische Tatsache, GA 8
Anthrowiki: Johannes Evangelist.
Wikipedia: Johannes Apostel
Anthrowiki: Donnersöhne.