Wesen und Zukunft des Menschen in den Fresken von Kloster Marienberg - Teil 1

14-03-2018 Artikel von Kurt Hofer

Am bewaldeten Hang oberhalb von Burgeis im Südtirol thront auf einem Felssockel einem Schloss ähnlich das Benediktinerkloster Marienberg. Das Herzstück des Mitte des 12. Jahrhunderts gegründeten Klosters sind Fresken eines unbekannten Malers aus der Zeit der Gründung. Im 19. und 20. Jahrhundert an Wänden und Decken freigelegt, empfangen die Malereien den Besucher in leuchtenden Farben. Sogar kleinste Details der Anordnung und Darstellung des Freskenzyklus’ zeugen dabei vom offenkundig eingeweihten Wissen ihres namenlosen Erschaffers über die geistige Welt.

Der Besuch des Klosters während der vergangenen Sommerferien hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck. Bis heute lassen mich die Fresken vor Ehrfurcht erschaudern. In der Nacht nach dem Besuch des Klosters wachte ich plötzlich aus dem Schlaf auf und hatte die starke Eingebung, dass die geistigen Hintergründe der Darstellungen in der Krypta des Klosters in unmittelbarer Beziehung mit Erfahrungen und Erkenntnissen auf dem modernen Schulungsweg zur Erlangung des lebendigen Denkens stehen – und also mit unserer heutigen Aufgabe.

Ich möchte in der Folge bruchstückhaft einige Beobachtungen, Ahnungen und Erkenntnisse schildern, die mir durch die Bilder in Verbindung mit dem Übungsweg – zum Teil in dankenswerter Weise ausgelöst, bestätigt oder bestärkt durch die kleine Schrift von Mechthild Clauss (2007)3 – zuteil wurden. Die meinem Text zwischengefügten Zitate entstammen ohne nähere Angabe dem Buch ”Vom Himmel hoch – Die Engel-Hierarchien und der Mensch” von Mieke Mosmuller, 2016.

Die Apsis mit dem Herrscher über Himmel und Erde

”Man muss die Tatsachen in der geistigen Welt selbst wahrnehmbar machen.” (M.M., S. 13)

Der Altar der Apsis, nach katholischem Glauben der Ort unmittelbarer göttlicher Gegenwart, wird vom Bild des  großen Weltenherrschers überwölbt. Die Füße auf den Erdenbogen stützend, sitzt ER majestätisch auf dem zwölfgeteilten Himmelsbogen. Von dort blickt er herab, die rechte Hand zum Segen erhoben, in der Linken das geöffnete Buch zeigend. Sein Gewand ist rot-bräunlich, der Hintergrund, welcher vom Erdenbogen bis weit über den Himmelsbogen reicht, ist in mattem Grün gehalten. Kopf, rechte Hand und Füße allerdings ragen zur Hälfte über das Grün hinaus in scheinbar unendlich tiefes Blau. Die Darstellung wird umschlossen von einer mandelförmigen Lichthülle (Mandorla) in den Farben Rot, Gelborange und Weiß.

”Wenn man etwas Geistiges denkt, mit aller Kraft, ohne Vermischung mit sinnlichen Eindrücken, dann ist man auch wirklich in und bei dem, was man so denkt. Im Mittelalter war das eine Selbstverständlichkeit.” (M.M., S. 14)

Pantokrator
Bild 1: Der Pantokrator zwischen Himmel und Erde

Das Apsisfresko über dem Altar will dem Betrachter offenkundig zu Bewusstsein führen, dass sich der große Herrscher über den Kosmos inkarniert hat und Himmel und Erde verbindet. In bewundernswerter Einfachheit und Klarheit macht es den geistigen Raum sichtbar, der dem Gläubigen in der eucharistischen Handlung am Altar eröffnet werden soll. Irdisches Denken, Fühlen und Wollen, das sich mit IHM in seiner unfassbaren Glorie verbindet, hat Anteil am Himmel.

Die himmlische Ordnung im Angesicht des Herrn

”Wenn man sich zum lebendigen freien Denken erheben kann, wenn man diesen Schritt macht, dürfte man erwarten, dass man im Laufe der Zeit in der Umgebung des geistigen Menschen, der man ist, die Hierarchien findet.” (M.M., S. 12)

Vier Engelgestalten und zwei Menschen umgeben den Weltenherrscher zusammen mit Bildern der Evangelisten. Spiegelbildlich-symmetrisch um die Mandorla angeordnet, erscheinen sie in unterschiedlicher Mächtigkeit. Zuoberst  und dem Herrn am Nächsten kommend, sind zwei sechsfl ügelige Seraphim. Ihre obersten Flügel sind wie Flammenzungen nach oben gerichtet. Tiefer stehend und kleiner an Gestalt stehen zwei Angeloi, die beiden Menschen schräg unter ihnen mit einem ihrer Flügel schützend. Schlüssel weisen eine der beiden Menschengestalten als Apostel Petrus aus, das Buch des göttlichen Wortes die andere als Paulus. Auf Erdschollen stehend, reichen Petrus und Paulus durch die kosmischen Sphären hindurch bis an den Lichtrand der Mandorla. Ein dickes hellbraunes Band verbindet zudem Kopf und Herz der beiden in unterschiedlich weiten Bogen mit der geistigen Welt um sie. Allerdings verhindern die Flügel der Angeloi über ihrem Haupt den Anblick der göttlichen Herrlichkeit. Diese bleibt off ensichtlich den Engelwesen und den Evangelisten vorbehalten.

Über dem Menschen, so macht die Darstellung deutlich, steht die ganze Engelhierarchie, die von den Angeloi bis zu den Seraphim reicht. Mit seinem Geist reicht der Mensch bis zuoberst in die geistige Welt hinauf und sein Herz umfasst die ganze Wirklichkeit. Noch ist aber die Verbindung mit der geistigen Welt mit Christus im Zentrum nicht rein und ihr Anblick bleibt ihm unter dem Schutz der Angeloi verwehrt. Die geheimnisvollen weißen Bänder in der Hand der beiden Angeloi verweisen aber bereits darauf, dass dies künftig nicht so bleiben wird.

Die geheimnisvollen weißen Bänder

Die beiden Angeloi halten den Apostelfürsten in einem auff ordernden Gestus schmale weiße Bänder hin, die an entrollte Schriftrollen gemahnen. In locker-geschwungener Form reichen diese über das erwähnte hellbraune „Geistesband”, das Himmelblau und das Grün hinab bis zum Erdenbraun. Das leuchtende Weiß der Bänder fi ndet dabei eine Entsprechung im leuchtenden Weiß des aufgeschlagenen Buches in der Hand von Christus, ebenso im geschlossenen Buch von Paulus und in den Flügeln der Angeloi.

Petrus
Bild 2: Petrus mit dem weißen Band in der Hand eines Angeloi 

Auf welche geistige Tatsache weisen die weißen Bänder in den Händen der Angeloi hin? Claus (2007, S. 27) spricht von Schriftbändern, betont jedoch, dass diese unbeschrieben seien, und interpretiert dies in folgender Weise: „Offenbar geht der Inhalt der Bänder über die Aussagekraft der Menschenschrift hinaus. Die Bandrichtung von oben nach unten indessen ist Sprache genug: sie deutet auf die Himmelsbotschaft, die zur Erde gesandt wird.”

Als moderner Mensch auf dem Übungsweg scheint es mir off ensichtlich, dass die weißen Bänder für das reine lebendige Denken stehen, das Himmel- wie Erdenreiche gleichermaßen durchdringt. Noch hatte es der Mensch von den Engeln nicht ergriff en, aber künftig würde dies möglich sein und schließlich die Engel-Menschen im Himmlischen Jerusalem verbinden (siehe weiter unten).

Der Mensch als künftige zehnte Hi erarchie

„Die Tatsache, dass man seinem Gefühl nach nicht höher schauen kann als bis zum Sternenhimmel, heißt nicht, dass man sie [die Cherubim und Seraphim; KH] im Geist nicht sehen könnte. Da liegen die Grenzen nicht so, wie sie für das äußere Auge liegen.” (M.M., S. 66)

Im Mitteljochgewölbe der Krypta sieht man im Zenit ein weißes Auge, umgeben von einem blätterförmigen Wolkenkranz und darum herum Darstellungen von Engelwesen verschiedener Hierarchien. Für Clauss (2007, S. 32) steht diese Szenerie stellvertretend für den unsichtbaren Vatergott im Schöpfungsurgrund: „Der Vater ist unsichtbar. Sichtbar geworden ist er im Sohn. In den Engeln durchwirkt er die sichtbare Schöpfung, die unausgesetzt von ihm kündet.” Im Hintergrund der Engel befindet sich blauer Himmel, mit leuchtend weißen Sternen oder kleinen Sonnen übersät. Hinter manchen Engelwesen befinden sich außerdem großflächige grüne Dreiecke, die ebenfalls Sterne tragen.

Zunächst sind es zwölf Engelgestalten, jeweils drei in jeder der vier Gewölbekappen. An der Spitze des Gewölbes der Westkappe zeigt sich jedoch, kleiner an Gestalt, ein weiß gekleideter dreizehnter Engel. Dieser scheint gleichsam aus dem zentralen Wolkenkranz herauszuwachsen. Sein Haupt ehrerbietig nach dem Weltenherrscher über der Apsis geneigt, scheint er diesen in unendlicher Hingabe lieblich anzubeten. Unmittelbar unter ihm steht ein Erzengel, der als Michael erkennbar ist. Über die ganze westliche Gewölbekappe verteilt befinden sich kleine Sonnen; zwei Engel tragen „blühende” Kreuzesstäbe in der Hand. 

WeisseEngel
Bild 3: Der kleine weiße Engel in Begleitung von Michael

„Im Westen geht die Sonne unter, und wo die Nacht beginnt, muss ein neues Licht aufgehen.” (M.M., S. 90)

Das Zukunftsgeschehen, das hier dargestellt ist, ist an bewegender Kraft kaum zu überbieten. Von der Christuskraft erhöht, erwächst aus der Mitte der Schöpfung unter Begleitung von Michael ein neuer Engel – der künftige Mensch. Die heilige Zwölfzahl der Engel zur Dreizehn überhöhend, bildet er die zehnte Hierarchie. Im Gegensatz zu Paulus und Petrus ist es ihm von seiner Warte aus geschenkt, Christus zu erschauen.

Clauss (2007, S. 42) kommentiert das Geschehen folgendermaßen: „Nicht die himmlische Hochzeit soll dargestellt werden, sondern der Weg, der zu solcher Hochzeit führt. Vom Altar geht dieser Weg aus – von Opfertat und Auferstehung des Gottessohnes. Und das Mittelfresko zeigt: Er kommt! Die Wiederkunft des Herrn lässt die Kreuzstäbe erblühen und wandelt die Sterne zu Sonnen. Der Wiederkommende macht alles neu.”

Der zweite Teil des Artikels „Wesen und Zukunft des Menschen in den Fresken von Kloster Marienberg” erscheint in der nächsten Nummer. 

3 Mechthild Clauss (2007): Menschenweg und Engelwelt. Die Kryptenfresken von Kloster Marienberg. St. Ottilien: EOS Verlag.

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