Wesen und Zukunft des Menschen in den Fresken von Kloster Marienberg - Teil 2

17-03-2018 Artikel von Kurt Hofer

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Kurt_HoferIn der letzten Ausgabe wurde darüber berichtet, wie der Freskenzyklus in der Krypta des Klosters Marienberg im Südtirol aus dem 12. Jahrhundert in faszinierender Einfachheit, Klarheit und Präzision die Entwicklung des Menschen im Verhältnis zur Engelwelt, zu den Zahlen und zur Farbe zeigt. Der unbekannte Erschaffer einer einzigartigen Bilderwelt lässt den Betrachter in den Fresken an eingeweihtem Wissen über die göttliche Welt und eine Zukunft ohne Trennung zwischen Himmel und Erde teilhaben: Was dem Menschen noch vorenthalten ist, wird ihm künftig geschenkt sein: Christus zu schauen.

Im zweiten Teil soll nun aufgezeigt werden, mit welchen Attributen der Maler den Entwicklungsweg zum zukünftigen Menschen ausstattet. Um diese in ihrer tiefen Symbolik zu verstehen, wird in der Folge wiederum die kleine Schrift „Menschenweg und Engelwelt“ von Mechthild Clauss1 unerlässliche Dienste leisten. Zudem soll durch Zitate, die dem Text unkommentiert zwischengefügt sind und dem Buch „Vom Himmel hoch“ von Mieke Mosmuller2 entstammen, der offenkundige Bezug zwischen den Freskendarstellungen und dem modernen Schulungsweg zur Erlangung des lebendigen Denkens angedeutet werden.

Krypta
Bild 1: Krypta von Kloster Marienberg mit dem Freskenzyklus: Blickrichtung Süden.

Äusserlicher Raum und innerlicher Raum

Wie berichtet, ist über dem Altar der Apsis Christus als Weltenherrscher dargestellt, wie er, von einer Mandorla umhüllt auf dem Himmelthron sitzt und seine Füsse auf das Erdenrund stützt. Die Apsis ist denn auch der Raum des Sohnes. Zusammen mit dem in westlicher Richtung angrenzenden Mitteljochgewölbe bildet sie den innersten Raum der Krypta und gleichzeitig deren Zentrum. Umhüllt vom Sohn und den himmlischen Heerscharen des unsichtbaren Vaters wähnt sich der Besucher, der hier nach oben blickt, unvermittelt in die geistige Welt versetzt.

„Man kann also sagen, dass der Inhalt der Gedanken, insoweit es reine, gute, richtige Gedanken sind, die Engel sind, dass die Aktivität des Denkens die Erzengel sind und die Aktivität der Erinnerung die Archai sind. Diese muss man eigentlich tätig fühlen, sehen, schauen. Nicht als ein Bild oder einen Film, sondern als etwas, was wesenhaft ist. Man ist daraus aufgebaut. Das ist man!“ (M.M., S.113)

Auferstehungskraft am Kreuzungspunkt von Entwicklung und Tugend

Der Raum des Vaters öffnet sich Richtung Norden und Süden zu einem Gang. Damit wird die Krypta räumlich zu einem Kreuz, das sich auch in den Freskendarstellen wiederfindet. Die Achse von Ost nach West wird von den beiden Erzengeln Gabriel und Michael gesäumt. Clauss (S. 37) spricht deshalb von der Entwicklungsachse: „Bedenkt man, dass Gabriel dem Lebensbeginn zugeordnet ist und Michael dem Lebensende, so muss man die von den zwei Erzengeln gebildete Achse als Entwicklungsachse erkennen. Sie wurde durch die Menschwerdung und Erlösertat des Gottessohnes der Schöpfung eingezeichnet.“

Die Achse von Norden nach Süden wird ebenfalls von zwei Erzengeln gesäumt. Nach Clauss handelt es sich dabei um Raphael als Heiler und Diener der Nächstenliebe sowie Uriel, den Wahrheitssucher in der Gottesliebe. Mit diesen Eigenschaften bilden die beiden im Verständnis der Autorin die „Achse der Tugenden“ (ebd.).

Der neue Mensch, der als künftige zehnte Hierarchie aus dem Schöpfungsurgrund herauswächst, so legt die Anordnung der Freskendarstellungen nahe, aufersteht am Kreuzungspunkt von Entwicklung und Tugend. Hier erwächst die heilige Wandlungskraft, die alles neu macht. Dazu Clauss (S. 37): „Entwicklung bedarf der Kräfte. Dargestellt werden dieselben in den Symbolen der Entwicklungsachse und der Tugendachse. Weist die Erstere auf die von Gott gesteuerte Heilsentwicklung, so zeigt die Letztere, dass der Mensch zur Heilsentwicklung beitragen kann – durch Gotteskräfte, die sich zu Tugendkräften wandeln, wenn der Erdenbürger sie ergreift und sich zu eigen macht.“

Die dreigeteilte Siegesfahne

„Aber im durchwollten Denken ist man im Gebiet der dritten Hierarchie. Dann ist man eins mit ihnen. Die Engel sind dann in den Sinneseindrücken wirksam, die Erzengel in der Denkkraft und die Archai in der Erinnerungsbildung. Wenn man das mit Willen vollziehen kann, ist man bei der dritten Hierarchie. Das Zwischengebiet, wo sich das Fühlen befindet, dieses träumende Gefühlsgebiet, wo man nicht ganz schlafend, aber auch nicht ganz wach ist, dieses Gebiet muss man lernen zu bedenken. Und mit dem was man dann entwickelt hat, nämlich ein durchwolltes Denken und ein bedachtes Fühlen, taucht man gleichsam unter in die Willenswelt. Dann trägt man vom Kopf aus das Denkwesen in das Willenswesen hinein, und dann wird gesagt: Dann lebt man in der Tugend. Diese Bewegung ist die Tugend. Es ist das vollkommen bewusste, durchwollte Denken, das zurückgeführt wird in das Willensgebiet, in die Handlung. Das ist die Tugend. Das ist also die allgemeine Charakteristik, könnte man sagen, der Tugend. Alle Handlungen und alle inneren Eigenschaften, die in der Handlung zum Ausdruck kommen, die in diesem Rahmen gedacht werden können, wären dann Tugenden. Dann braucht man nicht mehr zu sagen: Es gibt zwölf oder vier oder zu dieser Zeit waren es diese oder jene. Es zählt nur, wenn es das durchwollte Denken ist, das mit dem bedachten Gefühl in den Willen zurückgeführt wird.“ (M.M., S. 61)

Ein rätselhaftes Detail der Darstellung findet sich in Zusammenhang mit dem Erzengel Gabriel. Rechts an der Seite des Archangeloi sieht man ein breites weisses Band herunterhängen, das sich nach unten im Anschluss an ein blaues Querband dreiteilt. Für Clauss (S. 37) handelt es sich beim entsprechenden Relikt um ein Erlöserattribut in Form einer „dreigebänderte[n] Siegesfahne“. Geht man davon aus, dass die weissen Bänder, die bereits erwähnt worden sind und im Freskenzyklus wiederholt vorkommen für das reine lebendige Denken stehen, dann könnte postuliert werden, dass die Dreiteilung gleichsam den dreifachen Sieg meint, den es zu erringen gilt: Die „Erlösung“ vom sinnlichkeitsgebundenen Denken, Fühlen und Wollen.

Gabriel
Bild 2: Erzengel Gabriel mit dreigeteilter Siegesfahne

Aufruf zur individuellen Entwicklung

Das Mittjochgewölbe wird nach Westen von einer ebenfalls bemalten Wand abgeschlossen. Hier geht der Blick des Besuchers in waagrechter Richtung. Er blickt in ein offenes Gebäude ähnlich einem Tempel, welcher von drei Säulen gestützt wird. Edelsteine umgeben das Dach des Baus wie eine Perlenkette. Zwischen den Säulen stehen jeweils drei Engelgestalten, die über ein geschwungenes weisses Band verbunden sind. Mit tief ernstem Blick schauen sie in Richtung des Weltenherrschers, während der Betrachter dazwischen steht und sich der persönlichen Betroffenheit der Szenerie kaum entziehen kann. Hier bin ich gemeint!

Rechts und links ausserhalb des Gebäudes sitzen geistliche Würdenträger. Auch sie tragen weisse Bänder über die Hände gelegt. Den Kopf leicht seitlich geneigt, haben sie den Blick nach innen gerichtet. Geht hier ein Aufruf an den Betrachter zur individuellen Entwicklung?

Für Clauss (S. 49) steht die Westwand – nach dem Sohn in der Apsis und dem Vater im Mitteljoch – für den Heiligen Geist. Unter seinem Wirken werden die Kräfte des Menschen geweckt werden, so dass dieser schliesslich zur Braut wird und am Bau der Himmelsstadt mitwirkt, wie es ihm nach der Offenbarung des Johannes bestimmt ist. Die Westwand zeigt demnach den unvollendeten Bau des himmlischen Jerusalems und die sie umrandenden Edelsteine stehen für die reinen Kräfte, die den Bau vollenden können: „Der Mensch ist mitbeteiligt am Entstehen des himmlischen Jerusalem! Nicht aus eigenen Kräften baut er. Gotteskräfte – vom Menschen ergriffen und zu Tugendkräften verwandelt – bahnen den Weg, der unter dem Wirken des Heiligen Geistes zum neuen Menschen führt.“ Clauss (S. 42)

Westwand
Bild 3: Die wahrscheinlich dem Heiligen Geist zugedachte Westwand der Krypta

Als moderne Menschen können wir dem Aufruf in einer Art folgen, wie es zur Zeit der Entstehung der Fresken noch nicht möglich war.

„Jetzt bekommt das Ich selbst Substanz, wodurch die Form zugleich auch Materie wird, aber keine stoffliche Materie, sondern Geistmaterie.“ (M.M., S. 124)  

1 Mechthild Clauss (2007): Menschenweg und Engelwelt. Die Kryptenfresken von Kloster Marienberg. St. Ottilien: EOS Verlag
2 Mieke Mosmuller (2016): Vom Himmel hoch – Die Engel-Hierarchien und der Mensch. Baarle Nassau: Occident Verlag