Zum Raum wird hier die Zeit

28-12-2022 Artikel von Johan De Doncker

Zeit wird zum Raum. Das ist wirklich das Kernelement, woraus Richard Wagner das ganze Werk ‚Parsifal‘ konzipiert hat. Bei der ersten Begegnung fand ich diesen rätselhaften Satz sehr poetisch, aber weiter nichtssagend. Bis ich viele Jahre später genau diese Formulierung wiederfand bei R. Steiner in einem Vortrag vom 19. August 1923: Erste Schritte zur imaginativen Erkenntnis.

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Richard Wagner (Umfasste das griechische Kunstwerk den Geist einer schönen Nation, so soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist des freien Menschen über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen; das nationale Wesen in ihm darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht eine hemmende Schranke sein. (Aus: Kunst und Revolution)) 

Hierin sagt er, dass im Übergang vom gewöhnlichen Bewusstsein zur Imagination ‚Die Zeit zum Raum‘ wird und dass diese Bewusstseinsveränderung, die nötig ist, um zur Imagination zu kommen, unerwartet auftreten kann durch den einen oder anderen Schock, wie ein Ertrinkender, der sich in Todesgefahr fühlt. Diesem Wortlaut war ich buchstäblich begegnet in Parsifal und durch diesen Vortrag fand ich den Schlüssel, um das Werk besser zu verstehen. Wenn Kundry im ersten Aufzug unerwartet Parsifal erzählt, dass seine Mutter gestorben ist (Seine Mutter ist tot), kommt er in Atemnot. ‚Ich verschmachte‘, steht da im Text. In diesem Moment kam die ‚Verwandlungsmusik‘, die ich zuallererst als gewöhnliche Szenenmusik aufgefasst hatte, da die Bühne sich zur Gralsburg verwandeln muss. Parsifal sagt dann: ‚Ich schreite kaum, doch wähn` ich mich schon weit‘, worin deutlich wird, dass er sich physisch kaum bewegt, aber, dass er in eine andere Welt oder Dimension gekommen ist. Er erfährt eine Bewusstseinsänderung, wobei da nicht eine vierte Dimension dazu kommt, aber, wie Steiner sagt, wir da eine verlieren, so wie bei dem Panorama-Tableau nach dem Tod. (Was im Leben nacheinander in der Zeit verläuft, erscheint nach dem Tod nebeneinander in einer ‚zweidimensionalen‘ Panoramaübersicht.) In dieser gewaltigen Musik wird diese Erfahrung ‚Zeit wird zum Raum‘ paradoxerweise vertont.
Paradox, denn Musik kann sich normalerweise nur in der Zeit ausdrücken. Diese Tatsache wird am meisten erfahren im Metrum, z.B. dem Stabrhythmus des Marsches. Wenn wir nun dieses Marschtempo wirklich senken zu einer sehr langsamen Bewegung, so wie im Vorspiel von Parsifal (sehr langsam), wird dieses Zeitgefühl stark reduziert, es wird zeitloser.
Meines Erachtens sündigen viele Dirigenten hiergegen, da sie dem Unangenehmen versuchen zu entkommen dadurch, dass sie es einfach etwas schneller spielen. Wir haben in Antwerpen Aufführungen gespielt, die bei bestimmten Dirigenten eine halbe Stunde kürzer zu sein schienen! Die unangenehme Langsamkeit muss durch die Kunst des Dirigenten, durch einen schönen Spannungsbogen aufrecht zu erhalten, vermieden werden.
Ein gutes Vorbild ist die schöne Aufführung von Karajan mit den Berliner Philharmonikern, die nie unangenehm langsam klingt. Aber wenn man dann die Spanne des Vorspiels zeitlich bestimmt, dann scheint es eine der langsamsten Aufführungen zu sein.
Um dieses Zeitlose noch mehr zu betonen, lässt Wagner im Vorspiel verschiedene Metren gleichzeitig spielen. Das Hauptthema des Liebesmahls wird in einem 4/4-Takt gespielt (sehr langsam) und ein Teil des Orchesters spielt gleichzeitig in einer 6/4-Taktart, wodurch dieses Zeitgefühl noch extra diffus wird und man sich in einem zeitlosen Raum wähnt.

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Parsifal auf dem Weg zur Gralsburg 

Parsifal kommt hier also, wie bereits gesagt, unerwartet und unvorbereitet zu einer Imagination, die er absolut nicht deuten kann. Er hat diese Bilder nicht verstanden, weil er noch nicht zur Inspiration und schlussendlich durch Mitleid zu einer völligen Vereinigung mit Amfortas` Leiden (Intuition) kommen kann. Er wird dann auch wieder aus der Gralsburg verjagt. (Sowie das auch in der Erzählung von Chretien de Troyes und Wolfgang von Eschenbach geschieht.) Er muss einen sehr mühsamen Leidensweg gehen, bis er genügend Lebensweisheit hat, um die Gralsburg bewusst wieder finden zu können. Dies wird musikalisch ausgedrückt in dem Präludium des dritten Aktes. Nach dem Verlangsamen und Zerstreuen des Metrums gebraucht Wagner meines Erachtens nach einen dritten Aspekt, der diesen Übergang zum Raum bewirkt. Eine ‚normale‘ Melodie beginnt in einer bestimmten Tonart und endet später wieder in derselben Tonart. In einer solchen Melodie werden die 7 Töne der Tonleiter verwendet. Siebenfaltigkeit ist verwandt mit der Zeit. Bei Wagner ist das durch die andauernden und oft überraschenden Modulationen und die Chromatik nicht mehr der Fall, wodurch die Musik sich in der Zwölffaltigkeit der verschiedenen Tonarten abspielt. Zwölffaltigkeit hat mit dem Raum zu tun. Also auch hier geht er durch seine spezifische Kompositionstechnik von Zeit zu Raum. Wagner war sich bewusst, dass jede Tonart mit einer bestimmten Gefühlsstimmung zusammenhängt. Das war auch bereits bei Bach und mehreren Komponisten der Romantik bekannt, aber wurde mehr benutzt, um eine spezifische Tonart für ein ganzes Werk zu wählen. (Dieses Wissen ist bei heutigen Komponisten verloren gegangen.) Er wird immer eine bestimmte Tonart wählen, weil diese zu einer bestimmten Situation passt und muss dadurch andauernd modulieren. Er geht hierin selbst so weit, dass er auf ein bestimmtes Wort im Text die Tonart verändert, weil dieses Wort einen Wechsel nach einer anderen Gefühlstimmung verlangt. Manchmal verändert er zu einer unharmonischen Tonart, die klanglich (auf dem Klavier) gleich klingt, aber doch auf eine Transfiguration oder Metamorphose des Gegebenen deutet, dass dieses Gegebene durch ein anderes Licht beschrieben wird.
Eine wundervolle Einführung zu Parsifal ist die CD des Pianisten Stefan Mickisch, der diese Zwölffaltigkeit der Tonarten und ihre gegenseitige Verwandtschaft veranschaulicht. Sehr zu empfehlen! 

Des Weiteren hab ich mich immer gefragt, warum in den Erzählungen von Chretien und Eschenbach das Bild des Grals und der blutenden Lanze in der Gralsburg verwendet wird. Bei Wagner dagegen ist dieses Sinnbild vollständig verändert. Bei ihm kann wegen der Sinnlichkeit von Amfortas der Speer durch Klingsor gefasst werden und er verwundet Amfortas hiermit. Parsifal wird ihn schließlich zurückgewinnen und Gral und Speer vereinigen und dadurch die Wunde von Amfortas heilen. Der Gral wird mit dem Weiblichen (Passiven) und der Speer mit dem Männlichen (Aktiven) assoziiert. In unserem gewöhnlichen Bewusstsein sind wir in einer Welt von Polaritäten: Geist-Materie, männlich-weiblich, Subjekt-Objekt und hier auch Speer und Gral, die immer geschieden sind. In der Philosophie der Freiheit ist eine vergleichbare Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Begriff enthalten, die allein im menschlichen Geist auf einer höheren Ebene zusammengebracht werden kann, um diese Spaltung von Mensch und Welt zu überbrücken. Parsifal gelingt es, in dem Gebiet der Gralsburg, die in der Imagination-Inspiration-Intuition gefunden werden kann, diese Polarität von Gral und Speer zu vereinigen und so Amfortas zu heilen von seiner Qual. Parsifal wird der neue Gralskönig als rechtmäßiger Nachfolger.
Ein fixes Thema in den meisten von Wagners Opern ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen männlich und weiblich, zwischen erotischer Liebe und ideeller Liebe: Venusberg und Elisabeth im Tannhäuser, Brunhilde und Siegfried im Ring, Tristan und Isolde, wo die Vereinigung im Transzendenten gesucht wird, in der Nacht und dem Tod (Hymnen an die Nacht – Novalis) und schließlich Parsifal und Kundry. Amfortas verfällt der Sinnlichkeit. Parsifal kann der Versuchung widerstehen, weil er durch Kundrys Kuss plötzlich das Lei- den von Amfortas versteht. (Durch Mitleid wissend). Das Leiden, dass er davor in der Gralsburg nicht deuten konnte. In Wagners viktorianischer Zeit war das Erotische und im mehr allgemeinen Sinn das Sinnliche eine starke Verlockung, wodurch man nicht mehr zu den Erkenntniskräften der Gralsburg durchstoßen konnte. Es gibt eine zeitgenössische Regie, die doch den Geist von Wagner respektiert. (Eine DVD mit der Staatskapelle Berlin mit dem Dirigent Daniel Barenboim in einer Regie von Harry Kupfer) Die Blumenmädchen werden hier eingetauscht durch TV-Monitore, die Bilder von schönen Mädchen zeigen. Diese Ersatz-Imaginationen sind heute noch eine größere Verlockung, um sich passiv mit virtuellen Bildern von außerhalb volllaufen zu lassen, das Vermögen vernichtend, um innerlich aktiv Bilder zu formen und also die Imagination zu entwickeln, um dann in einer überpersönlichen Sphäre den Speer und den Gral vereinigen zu können. Das ist eine der wenigen sinnvollen heutigen Regien. Die meisten anderen sind eine ‚Torheit‘ des Regisseurs, die die Intension und den Tiefgang von Wagner völlig negieren.
Eine der absurdesten ist eine Regie, wo ‚Raum wird hier die Zeit‘ buchstäblich genommen wird und eine schwangere Maria Magdalena als Kundry in Szene gebracht wird, vielleicht im Geist des Da Vinci Codes?
Eine der seelentötendsten ist die Regie von Schlingensief in Bayreuth, wo die Auferstehungskraft des Grals in einem durch Würmer zerfressenen Osterhasen gesucht wird.
Wirklich eine Anti-Gral Regie und das in Bayreuth, damals noch unter der Leitung des Enkels von Wagner.

Eine letzte Überlegung ist die Bedeutung des letzten Satzes im Parsifal: Erlösung dem Erlöser Wird hier Parsifal erlöst oder Christus. Vielleicht beide? Es klingt auch mehr wie ein Aufruf, eine Möglichkeit in der Zukunft, die ersehnt wird, und die in Freiheit ergriffen werden kann.
Eine Antwort auf diese Frage kann vielleicht gefunden werden in einem Spruch von R. Steiner:

So lange du den Schmerz erfühlest,
Der mich meidet,
Ist Christus unerkannt
Im Weltenwesen wirkend;
Denn schwach nur bleibt der Geist,
Wenn er allein im eignen
Leibe Des Leidesfühlens mächtig ist.

Solange wir nur unseren eigenen Schmerz fühlen, muss Christus den Schmerz der Welt tragen.
Durch uns in Freiheit und voller Willen im Denken, strebend zu der Gralsburg zu erheben, nehmen wir einen Teil Seines Leidens auf uns und erlösen wir Ihn und die Welt.

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Durch Mitleid wissend, der reine Tor.
Harre sein, den ich erkor'.