Die dritte Hierarchie und das Denken in der Wahrnehmung

18-01-2020 Buchbesprechung von Lieke van der Ree

Ende Dezember, kurz vor Weihnachten, ist das Buch ,Über die Hierarchien der Engel. Die dritte Hierarchie’ erschienen. In der ,Zeitschrift für Lebendiges Denken’ Nr. 4 schrieb ich schon darüber. Nun will ich noch ein Thema aus diesem Buch beleuchten, das ,Denken in der Wahrnehmung’.

Ich wurde dazu durch das Seminar mit Mieke Mosmuller in Samaya im Oktober letzten Jahres inspiriert, wo wir Rudolf Steiners Schrift ,Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse’ studierten. Das Besondere ist, dass darin gesagt wird, dass für das gewöhnliche Bewusstsein in der sinnlichen Wahrnehmung ein Denken lebt, das übersinnlich ist.

,Ein Denken, das dem Organismus nicht unterworfen ist, lebt für das gewöhnliche Bewußtsein nur, während der Mensch im sinnlichen Wahrnehmen begriffen ist. Dieses sinnliche Wahrnehmen selbst ist vom Organismus abhängig. Das in ihm enthaltene und in ihm mitwirkende Denken ist aber ein rein übersinnliches Element, an dem der Organismus keinen Anteil hat. In diesem Denken hebt sich die Menschenseele aus dem Organismus heraus. Wer dieses Denken im Wahrnehmen sich zum abgesonderten Bewußtsein zu bringen vermag, der weiß durch unmittelbares Erleben, daß er als Seele sich unabhängig von seinem Leibe ergreift.’1

Das ist doch beeindruckend, dass gesagt wird, dass man sich als Seele erfassen kann, unabhängig vom Leib. Das bedeutet doch, dass man dann in einem Element lebt, was nicht mehr sterblich ist, und dieses Gebiet würde man doch in der Selbsterkenntnis suchen wollen! Das haben wir während der drei Tage in Samaya dann auch ausführlich getan. Für diejenigen, die nicht dabei sein konnten, wird nun glücklicherweise in dem neuen Buch über die dritte Hierarchie ausführlich beschrieben, wo man dieses Gebiet finden kann.

,Darauf kann man die Aufmerksamkeit lenken: Dass es in der sinnlichen Wahrnehmung ein Denken gibt, das nicht mit Namen arbeitet, eigentlich auch nicht mit Begriffen, dass aber doch nicht aus der Wahrnehmung kommt, sondern aus dem Denken. Und wir bemerken dies nicht, weil die Aufmerksamkeit nicht fein genug entwickelt ist, so dass wir meinen, wenn ich die Rose sehe, dann sehe ich mit den Augen, dass es eine Rose ist. Aber ich sehe nicht mit den Augen, dass es eine Rose ist, ich sehe das Objekt mit den Augen, und mit meinem Denken weiß ich, dass es eine Rose ist. Und dafür brauche ich den Namen nicht, es ist ein Zwischengebiet, das zwischen der Namensgebung und der Wahrnehmung liegt. Das Spannende ist dann, was Rudolf Steiner sagt: Dieses Denken kommt nicht aus der Erinnerung – und das ist gegen alle Psychologie.’2

Das ist doch etwas, um sehr enthusiastisch zu versuchen, ob wir dieses Zwischengebiet erleben können. Die Bedingungen sind deutlich: dass wir andächtig dafür sorgen müssen, nicht in unser persönliches Denken zu verfallen, und wir uns auch nicht so durch unser Wahrnehmen mitführen lassen dürfen, dass wir unser Denken aus dem Auge verlieren.
Mieke Mosmuller sagt: ‘Geef je denken zo vorm dat het tussen Lucifer en Ahriman gaat.’ Wir sind wie ein Pilger, der den richtigen Weg durch die Mitte sucht.

Pilger
Malerei von Djoeke Snijder

Während des Seminars in Samaya haben wir dies intensiv mit einer roten Rose geübt.

Wir versuchten, uns denkend-wahrnehmend ein inneres Bild davon zu machen. Das erwies sich schon als gar nicht so leicht, die zwei Klippen des persönlichen Denkens oder gerade der Verlust des reinen Denkens wurden spürbar. Aber wir blieben beharrlich, genau wie der Pilger, auf unserem Weg.

Es half, sich an das kleine Kind zu erinnern, wie es schaut, riecht, fühlt, voller Verwunderung, ohne ,Wissen’. Wir als Erwachsene können wieder lernen, unser Wissen zu vergessen, nur in der Bedeutung zu leben, die in den Sinneseindrücken lebt.3

Eurythmie kann eine Hilfe sein, das Denken zu erleben. Ruth Franssen und Raphaela Kühne hatten dafür für Samaya ein großartiges Programm vorbereitet. Sie zeigten unter anderem das Wort ,Rose’ in der Eurythmie. Die Rose, die keimt, wächst, verwelkt und Frucht trägt. Wir konnten dies auch selbst üben und versuchten, innerlich Rosen zu werden.

Ruth und Raphaela wählten als Namen für ihre Zusammenarbeit ,Logoseurythmie’. In ihren Publikationen nennen sie es: Das Wort in Bewegung gefasst. Sehr vorsichtig, innerlich tastend, begreifen wir, dass wir uns übend, in der Meditation und der Eurythmie, dem schöpferischen Weltenwort, dem Logos nähern.

Eurythmie
Raphaela Kühne und Ruth Franssen zeigen das Halleluja, Sommerseminar 2018 im Kiental, Berner Oberland

Es ist ein unglaublich großes Geschenk, dass wir als Mensch die Möglichkeit bekommen haben, unser Denken zu erleben und zu spiritualisieren. Mieke Mosmuller findet immer wieder andere Worte, um uns dahin zu führen. Ich erinnere mich an eine bildhafte Beschreibung der Wahrnehmung einer Rose in ihrem ersten Roman ,Mutter eines Königs’.
Hier wird Johannes die Frage gestellt, wie er das Denken übt und wahrnimmt. Er sagt dann:

,Es hat eine Zeit gegeben, in der ich gesagt hätte: Was ich dort sehe, ist eine Rose, und weiter bedeutet es mir nichts. Ich nahm nur oberflächlich wahr, urteilte und beschäftigte mich wieder mit anderen Dingen. Es gab keinen Unterschied zwischen dem Feststellen, zwischen dem Urteilen von lebenden und toten Dingen. Von dir, lieber Freund, habe ich gelernt, das Wahrnehmen, die Andacht darin zu verschärfen und das Feststellen, das Urteilen völlig außer acht zu lassen. Das brachte mich in das Erleben zurück, so wie du es gerade beschrieben hast. In diesem Sommer bin ich einem wahren Meister begegnet, einem geheimnisvollen namenlosen Fremden... Er hat mich auf wunderliche Weise auf den Wert meines Denkvermögens und die Möglichkeit des Erlebens darin gewiesen… Er hat mich geweckt… Wenn ich jetzt diese Rose betrachte, geht das wie folgt: Sobald ich meine Aufmerksamkeit lenke, werde ich meiner selbst als denkendes Wesen bewusst. Eine wahrgenommene, innerliche Kraft, beweglich und lebendig, die ich „Ich“ nennen muss, ist die Folge meiner starken Andacht. Es gibt nur noch Andacht, keine Wahrnehmung, kein Urteil. Nur noch ein innerliches Weben und Sein… Bewusst nehme ich jetzt das Objekt in meine Andacht auf. Die Kraft konzentriert sich jetzt in meinem Auge, bewusst zeichnet es die Formen mit, filtert es das Licht ur Farbe, verbildlicht das Tasten des Blattes, der Blume, des Stängels, der Dornen. Mein ganzes „Ich“, das Wesen meiner kraft bildet sich anhand dieser Wahrnehmung – es wird das Wahrgenommene… Ich selbst werde die Rose, webend in meinem Auge, an der Grenze zwischen dem All und meinem Körper… Meine Denkkraft wird von dieser Wahrnehmung, die zum Wesen wird in meinen „Ich“, tief durchdrungen. Man braucht nicht das Wort „Rose“ zu denken, sie ist in mir und ich in ihr… Ich empfinde ihre Schönheit, ihr Wesen, aber auch ihr erschöpftes Leben, ihren Durst. Sie weist mich auf ihre unsterbliche Idee, aber auch auf ihre sterbliche Hülle, hier und jetzt… Ihre ganze Bedeutung spricht sie in mir aus, in unaussprechlichen Worten, rein und zart. Der Abstand zwischen ihr und mir hat sich aufgehoben, obwohl wir beide „uns“ selbst bleiben dürfen. Das, was in mir Rose ist, hat sie mich erkennen lassen. Ich trug sie immer in mir, sie war schon immer diejenige, die sie ist … aber meine Andacht, auferstanden als Kraft, brachte mir die Bedeutung, die unauflösbare Einheit… Alles, was ich euch jetzt erzählt habe – es ist das Denken, wie es ist, wenn es aus dem Schatten auferstehen darf und sich mit dem Licht, das den Schatten wirft, vereinigen darf.’

Man wird still davon. Eigentlich findet man keine Worte mehr. Die Seele ist wie das Mädchen mit dem Stern auf der Stirn aus dem Grimmschen Märchen,4 das seine Brüder erlösen will. Sie muss aus Liebe zu ihnen sieben Jahre schweigen…

Mieke Mosmuller beschreibt in dem Buch über die dritte Hierarchie, dass wir im reinen Denken, das noch vor jedem persönichen Gedanken liegt, die Hierarchie der Engel finden können. Sie wirken in unserem gewöhnlichen Bewusstsein:5

,Wenn wir, von unserem Denken ausgehend, die Engel gewahr werden wollen, dann ist es notwendig, dass wir wissen, dass überall da, wo in der Erkenntnis ein Thema ist, wo alle Menschen sich einig sind, da der Engel mitdenkt.’ [...]
,Überall da, wo doch etwas allgemein Gültiges gedacht wird, auch im gewöhnlichen Denken, sind sie da. Man könnte sagen: In dem reinen Denken in der Wahrnehmung sind sie da. Das haben wir auch öfters geübt, dass man versucht, sich in der sinnlichen Wahrnehmung so zu beherrschen, dass man nur denkt, was da ist, oder eigentlich auch das noch nicht. Dass man in der Wahrnehmung weiß, was man sieht oder hört oder was auch immer, aber nicht weitergeht, das hat auch allgemeine Bedeutung, da wirken die Engel vorzugsweise. In diesem reinen Gedankenelement also, wo das Persönliche noch gar nicht dabei ist, was vor jedem Gedanken liegt, da haben wir es fortwährend mit den Engeln zu tun.’ [...]

,Man kann sich vorstellen, dass ich in dem Moment, wo ich mir dessen bewusst werde, dessen ich mir sonst nie bewusst bin, mich so verwandle, dass ich mit dem Engel eins werde. Dann tun wir für die Engel, was Alanus uns aufgibt: dass wir Wesenszüge der Hierarchien denken, ehrfurchtsvoll denken, und dann auch wirklich bei diesen Wesen sind, und nicht nur bei diesen Wesen, sondern eins mit ihnen sind.’

Haben wir dieses Denken in der Wahrnehmung gefunden, dann kann dies auch eine große Stütze auf dem meditativen Weg sein. Mieke Mosmuller:6

,Es ist eine große Stütze, wenn man sich dieses unmittelbaren Denkens in der sinnlichen Wahrnehmung gesondert bewusst werden kann. Man hat dann ein anschauendes Denken, das man anwenden kann, wenn man meditiert [...]. Denn auf der einen Seite nimmt man in der Meditation einen Inhalt, der nicht aus den Sinnen kommt, und auf der anderen Seite schaut man denkend diesen meditativen Inhalt mit einem originär reinen, nicht auf Erinnerung beruhenden anschauenden Denken an. Es ist Herkulesarbeit, aber diese Arbeit führt zu der großartigsten Befreiung, die in einem Menschenleben stattfinden kann: zur Befreiung der Menschenseele aus dem Leib, wä- hrend das Bewusstsein erhalten bleibt.’

Jesuskind

1 Rudolf Steiner: Frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse.

2 Mieke Mosmuller: Über die Hierarchien der Engel. Die dritte Hierarchie. 16. Stunde. Occident 2018.

3 Mehr über dieses Thema in Mieke Mosmuller: Meditation. Occident 2001.

4 Das Märchen ,Die zwölf Brüder’. Genau wie die zwölf Prinzen aus dem Märchen sind auch die Kategorien in unserem Verstand verzaubert (oder besser gesagt entzaubert), sie sind gestorbene Begriffe geworden. Nur indem man sie beleuchtet, erlebt, können sie zum Leben kommen. Diesem Thema hat Mieke Mosmuller das Buch ,Die Kategorien des Aristoteles. Buchstaben des Weltenwortes’ (2013) gewidmet.

5 Über die Hierarchien der Engel. Die dritte Hierarchie. 6. Stunde.

6 Mieke Mosmuller: Lebendiges Denken. Christus und das menschliche Denken. Kapitel ,Denken und Wahrnehmen’. Occident 2015